Der Spaziergang als Reise zu sich selbst

  22.09.2022 Kultur, Kultur, Lauenen

Michail Schischkin las am vergangenen Sonntag im Rahmen des Literarischen Herbstes vor wunderschöner Naturkulisse beeindruckende Texte.

ULRICH RÜGER
Mehr als dreissig Literaturenthusiasten treffen sich bei schönstem Wetter am Schönrieder Bahnhof. Michail Schischkin liest nicht aus seinen literarisch festgehaltenen Wanderungen (siehe Kasten), sondern beginnt mit Auszügen aus einem Essay über einen seiner Lieblingsschriftsteller, Robert Walser. Dass eines der bekanntesten Werke Robert Walsers schlicht «Der Spaziergang» heisst, ist kein Zufall. Für Robert Walser ist der Spaziergang eine existenzielle Erfahrung, in der sich der Sinn der Welt als ihre Schönheit offenbart. Eine Schönheit, die sich an diesem Tag triumphierend zeigt im Blick von Schönried aus auf dem frisch gefallenen Schnee der gegenüberliegenden Berggipfel. Eine Schönheit, die in den nächsten beiden Texten zur verstörenden Kontrastfolie wird.

Abrupter Wechsel
Brutal wechselt Michail Schischkin von Robert Walsers Genie der Verlorenheit zum Abgrund des Traumas, das Schischkin verfolgt: dem russischen Regime, von Schischkin «mittelalterlich und faschistisch» genannt. «Wie soll man Blindheit heilen», fragt Schischkin, «wenn einer blind sein will?»

Nein, auch Schischkin weiss es nicht. Warum aber diese Wunden aufreissen und offen halten, wenn doch niemand weiss, was zu tun wäre? Der von Schischkin geschätzte und bewunderte Russe Alexander Herzen hatte geschrieben: «Wir sind nicht die Ärzte, wir sind der Schmerz.» Schischkins Literatur verleiht ihm eine Stimme.

Die Sache mit dem Kaugummi
Inzwischen ist man auf einem abwechslungsreichen Weg beinahe am Ziel angelangt. Aus einem Sammelband, in dem sechs Autoren jeweils ein Kindheitserlebnis beschreiben, liest Schischkin, wie er von einem kanadischen Eishockeyspieler durch einen gezielten Wurf mit einem Kaugummi in den siebten Kindheitshimmel emporgehoben wird. Ein Glück, das ein jähes Ende findet, als seine Mutter – wie es der Zufall will, die Direktorin der Schule – die begeisterten Knaben als Feinde der Sowjetunion entlarvt. «Warum gibt es hier keine Kaugummis?», hört sich der junge Schischkin sagen. «Hier gibt es viele Dinge nicht», antwortet die Mutter, «aber das ist kein Grund, seine Würde zu verlieren.»

Man spürt förmlich, wie in diesem abstrakten Satz das Kindheitsglück zusammenbricht und durch die offizielle Propaganda ersetzt wird: Das Leben sei nur etwas wert, wenn man bereit sei, es zu opfern.

Der Kaugummi, der den jungen Schischkin beglückt, ist so überflüssig wie der Spaziergang Robert Walsers und bewahrt doch in seiner Überflüssigkeit das Glück als körperliche Erfahrung.

Michail Schischkins literarischer Spaziergang überzeugt als gelungener Versuch, dass eine überwältigende Naturkulisse der Wirkung von Literatur keinen Abbruch tut.


MICHAIL SCHISCHKIN

Seit Michail Schischkin 1995 von Russland in die Schweiz gezogen ist, schreibt er über literarische Bezüge zwischen beiden Ländern. Er wanderte auf den Spuren von Byron und Tolstoi vom Genfer See nach Interlaken und hat darüber ein wunderbares Buch mit dem Titel «Montreux – Missolunghi – Astapowo» veröffentlicht.

ULRICH RÜGER


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote