Im ersten Sinfoniekonzert des Gstaad Menuhin Festivals im Zelt erlebte man nichts weniger als eine musikalische Weltreise – und zwar mit zwei Frauen als «Reiseleiterinnen».
ERICH BINGGELI
Wie schön: Obwohl im ersten Konzertteil eher ...
Im ersten Sinfoniekonzert des Gstaad Menuhin Festivals im Zelt erlebte man nichts weniger als eine musikalische Weltreise – und zwar mit zwei Frauen als «Reiseleiterinnen».
ERICH BINGGELI
Wie schön: Obwohl im ersten Konzertteil eher unbekannte Werke gespielt wurden, war das Festivalzelt praktisch vollbesetzt. Und das Publikum zeigte sich sehr begeisterungsfähig und dankbar. Doch davon später.
Inhaltlich boten die Kompositionen grösstmögliche Kontraste zwischen feuriger Vitalität und düsteren Todesgedanken an. So dominierten in der Legende aus Sibelius’ Lemminkäinen-Suite, op. 22, mit dem Titel «Der Schwan von Tuonela», einer klanglichen Vision des Totenreichs aus der finnischen Mythologie, die schwermütigen, behutsam umschatteten Töne.
Ganz anders dann das «Latin Concerto» der Venezolanerin Gabriela Montero (geb. 1970) aus dem Jahr 2016: Hier stand fulminant Südamerikanisches von Mambo bis Salsa neben Elegischerem, Nachdenklichem. Die Komponistin wollte, wie sie selbst sagte, ein «Chiaroscuro» erreichen, also sowohl die helleren wie auch die dunklen Seiten des Lebens abbilden. Überraschend: Das Klavier wird dabei oft stark in den Gesamtklang integriert, fast wie eine zusätzliche Orchesterstimme.
Nach der Pause folgte der Sprung zum nordamerikanischen Kontinent, zu Dvorˇáks melodienseliger Sinfonie Nr. 9 in e-Moll, op. 95, welche den Beinamen «Aus der Neuen Welt» trägt und amerikanische mit böhmischer Volksmusik hinreissend verschmilzt – ein Fest für die Sinne und ein Hit aus dem Klassikrepertoire.
Fünf magische Minuten
Zu den Wiedergaben: Gabriela Montero war ihre eigene Solistin, und sie lieh ihrem dreissigminütigen Klavierkonzert ein Optimum an Herz und Hingabe, stets präzise und doch spielerisch, jederzeit souverän. Natürlich durfte sie die Bühne nicht verlassen, ohne auch in Gstaad ihre hoch entwickelte Improvisationskunst zum Besten gegeben zu haben. Herrlich, wie sie das spontan aus dem Publikum vorgesungene Motiv aus «Lueget, vo Bärge und Tal» variierte und steigerte, durchaus europäisch traditionell, mit Anklängen von Schubert bis Rachmaninow. Es waren fünf magische Minuten.
Die litauische Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla bewies ihre nach vielen Richtungen hin kompetente Musikalität bereits in den Begleitaufgaben: Sie disponierte überlegen, sorgte für klare Akzente und liess es wo immer nötig funkeln.
Sibelius gestaltete sie beseelt und ganz aus innerer Ruhe heraus (und ohne Dirigierstab), Dvorˇák erhielt das ganze Spektrum von verinnerlichter Lyrik bis zu zupackendem Elan. In einer kurzen emotionalen Rede widmete sie das Konzert ihrem kürzlich jung verstorbenen Freund, dem französischen Oboisten und Dirigenten Victor Aviat.
Das Gstaad Festival Orchestra folgte der noch nicht vierzigjährigen Dirigentin engagiert und schmiegsam, dramatisch belebt und, in der Begleitung, nie zu laut oder, bei Dvorˇák, knallig undifferenziert. Ein Sonderlob erspielten sich die vorzügliche Rhythmusgruppe bei Montero sowie der Englischhornist bei Sibelius und Dvorˇák.
Standing Ovations
Am Schluss gabs Standing Ovations und – natürlich – eine Zugabe. Es erstaunte nicht, dass die Dirigentin eine Rarität von Mieczyslaw Weinberg (1919 bis 1996) wählte, für den sie sich besonders gerne einsetzt. Die schlichte, von leiser Melancholie durchwobene Aria bildete den würdigen Abschluss eines intensiven Wechselbads der Gefühle.
Eine Frage blieb allerdings: Was sollte die wechselnde (und störende) Beleuchtung durch einige Scheinwerfer von rot, blau bis zu grell weiss? Das Festivalzelt ist doch keine Disco…