Die Schriftstellerinnen Anne Weber und Mireille Zindel im Kulturlokal «La vache bleue»
28.10.2024 KulturIm Rahmen des Literarischen Herbsts Gstaad lasen die beiden mit wichtigen Kulturpreisen ausgezeichneten Schriftstellerinnen Anne Weber und Mireille Zindel aus ihren neuesten Werken vor. Die beiden führten die Hörerinnen und Hörer in zwei völlig unterschiedliche Welten: ...
Im Rahmen des Literarischen Herbsts Gstaad lasen die beiden mit wichtigen Kulturpreisen ausgezeichneten Schriftstellerinnen Anne Weber und Mireille Zindel aus ihren neuesten Werken vor. Die beiden führten die Hörerinnen und Hörer in zwei völlig unterschiedliche Welten: Anne Weber mit «Bannmeilen» in die Banlieues von Paris – die berüchtigten Quartiere jenseits der Péripherique – Mireille Zindel mit «Fest» in die wahnhafte Welt der unglücklich liebenden Noelle.
HANSUELI GAMMETER
Moderatorin Leonora Schulthess stellte die Autorin von «Bannmeilen» kurz vor: Sie wurde 1964 in Offenburg geboren und lebt seit 40 Jahren als freiberufliche Schriftstellerin und Übersetzerin in Paris. Sie gibt ihre Bücher jeweils in beiden Sprachen heraus. Die französische Fassung von «Bannmeilen» erscheint demnächst auf dem Markt. Sie ist Trägerin des Solothurner Literaturpreises 2024.
«Bannmeilen»
Der Roman beginnt mit dem Satz: «Thierry ist der einzige Franzose, den ich je im sogenannten ‹Passé simple› habe sprechen hören, eine Vergangenheitsform, die im Französischen schon lange nur noch in der Schriftform überlebt.» Dieser Satz zeigt gleich zu Beginn, worum es der Autorin geht: Sie möchte die gängigen Klischees hinterfragen.
Der Sprechende – in der Banlieue aufgewachsen und Abkömmling einer algerischen Familie – charakterisiert sich mit seiner Aussage als sprachbewussten Intellektuellen. Und widerspricht damit dem weit verbreiteten Vorurteil, wonach man in der Banlieue nur gewaltbereite, dümmliche Halunken antreffe. Thierry ist Dokumentarfilmer und hat den Auftrag, Filmmaterial für die bevorstehenden Olympischen Sommerspiele 2024 in Paris bereitzustellen. Er schlägt der Ich-Erzählerin, einer Pariserin, die nie auf den Gedanken gekommen wäre, dass es auch jenseits der Périphérique Interessantes zu entdecken gibt, vor, sie auf seinen Streifzügen zu begleiten. Ihr beginnt sich eine Welt zu eröffnen, für die sie, wie sie sich eingestehen muss, jahrzehntelang blind gewesen ist. Sie treffen dort auf einst vorbildliche Siedlungen, die den aus den Kolonien zugezogenen Arbeitern komfortablen Wohnraum boten, heute aber am Verlottern sind, auf futuristische Architektur wie die Archives nationales, Gedenktafeln und Gräber. Letztere geben Anlass, auf das schwierige Erbe des Kolonialismus und den oft erbärmlichen Umgang des Staates mit den Bürgern aus diesen Ländern zurückzublicken. Beispielhaft sei das Grab von Boughéra El Ouafi auf dem Friedhof Bobigny erwähnt. Boughéra war Algerier, Arbeiter bei Renault und Marathonläufer. Er schaffte es, nebenbei zu trainieren und bei den Olympischen Spielen Amsterdam 1928 die Goldmedaille im Marathonlauf zu gewinnen. Man hatte ihm für die Teilnahme am Wettkampf zwei freie Tage bewilligt. Als Algerier galt er als «Indigène» ohne die französischen Bürgerrechte. Für die Dauer seines Siegs wurde er zum Franzosen erklärt und gefeiert, für den Rest seines traurigen Lebens war er wieder «der kleine Algerier» ohne Bürgerrechte. In Algerien, seiner Heimat, galt er als Verräter, weil er durch seine Teilnahme für Frankreich mit dem Besatzer kollaboriert hatte.
Das Buch bietet die einmalige Chance, vom sicheren Lesesessel aus die tatsächlich oft gefährliche, aber faszinierende Banlieue von Paris zu erkunden.
«Fest»
Nun übernahm Noëmi Schöb die Moderation und stellte die Autorin Mireille Zindel vor: Sie ist Germanistin und Romanistin und lebt in Zürich. Auch sie wurde mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet.
Noelle, eine junge Frau, ist mit Haut und Haar David verfallen. Dieser zeigt ihr die kalte Schulter, lässt ihr aber immer wieder Zeichen der Zuneigung zugehen, sodass es ihr nicht gelingen kann, sich von ihm zu lösen. Sie ist verheiratet mit Bertram. Sie wird wahnsinnig.
Die Autorin begleitet die unglücklich Liebende in drei Teilen in drei verschiedene Stadien des Wahns. Die Raffinesse des Romans gründet darin, dass aus der Perspektive der Protagonistin erzählt wird, die Lesenden somit nicht in der Lage sind, Wirklichkeit und Wahnsinn auseinanderzuhalten. Bertram bringt seine Frau in das Ferienhaus seiner Mutter im Jura. Sie hofft, dort Ruhe zu finden, um ein Buch zu schreiben. Erst allmählich wird klar, dass es sich um eine psychiatrische Klinik handelt und es dort noch weitere Patientinnen und Patienten gibt.
Das Buch umfasst – wie gesagt – drei Teile, die sich in Darstellung und Sprache unterscheiden: Ein erster Teil steht für die eingeschränkte Wahrnehmung von Noelle. Es gibt hier viele kurze, lose Szenen und bruchstückhafte Erinnerungen. Im zweiten Teil werden ihre Wahrnehmungen realistischer, nachdem sie die Medikamente abgesetzt hat. Dies äussert sich in längeren, beschreibenden Passagen. Im letzten Teil ist sie aufgewühlt. Sie führt innere Monologe, der Text gewinnt an Tempo. Als Noelle ihr Buch zu Ende gebracht hat, fehlt noch der Titel. Sie nennt es «Fest». Als Sacha, der Psychiater, Noelle für einen Artikel befragt, wie es sich anfühlt, verrückt zu sein, antwortet sie: «Du lebst einfach mehr, siehst mehr, fühlst mehr, hörst mehr, alles ist mehr…» Man möchte anfügen: Es ist wie ein Fest.