Die IMMA in Schieflage – zwei Gruppierungen setzen sich für Menuhins Erbe ein
20.09.2024 KulturDie International Music Menuhin Academy (IMMA) ist in Nöten. Gemäss der Zeitung «Le Temps» verzeichnet sie ein Defizit von rund zwei Millionen Franken. Der künstlerische Leiter Renaud Capuçon, der ehemalige Stiftungsrat, die Lehrpersonen – fast niemand ist mehr ...
Die International Music Menuhin Academy (IMMA) ist in Nöten. Gemäss der Zeitung «Le Temps» verzeichnet sie ein Defizit von rund zwei Millionen Franken. Der künstlerische Leiter Renaud Capuçon, der ehemalige Stiftungsrat, die Lehrpersonen – fast niemand ist mehr an seinem Platz. Die Webseite ist nicht erreichbar. Wie konnte es so weit kommen? Und vor allem: Wie geht es nun weiter? Jeremy Menuhin, der Sohn des Gründers Yehudi Menuhin, und auch der neue IMMA-Stiftungsrat mit Vizepräsident Andrea E. Rusca beleuchten, wie sie sich eine Weiterführung der prestigeträchtigen Akademie vorstellen.
Wie geht es mit der IMMA weiter?
Die International Music Menuhin Academy (IMMA) befindet sich in finanzieller Schieflage. Gemäss der Zeitung «Le Temps» verzeichnet sie ein Defizit von rund zwei Millionen Franken. Der künstlerische Leiter Renaud Capuçon, Stiftungsratspräsident Charles Méla und weitere Stiftungsratsmitglieder verliessen die prestigeträchtige Institution. Jeremy Menuhin, der Sohn des Gründers Yehudi Menuhin, versichert allerdings Kontinuität in Form von einer «Menuhin Akademie», während auf der anderen Seite der neue Stiftungsrat mit Vizepräsident Andrea E. Rusca die IMMA mit veränderten Prämissen weiterführen möchte.
SONJA WOLF
Es steht finanziell nicht gut um die International Music Menuhin Academy (IMMA). Die Akademie scheint zurzeit nicht existent, die Webseite ist nicht erreichbar. Zwei verschieden Gruppierungen möchten die Rettung der Akademie in die Hand nehmen (siehe die beiden Stellungnahmen unten). Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen?
Einnahmequelle ist versiegt
Laut einem umfangreichen investigativen Bericht der Westschweizer Zeitung «Le Temps» vom 13. September verzeichnet die Akademie in Rolle einen Fehlbetrag von rund zwei Millionen Franken – bei einem üblichen jährlichen Budget zwischen 1,8 und 2 Millionen Franken. Grund sei der Rückzug der einzigen Mäzenin, der Philanthropin und leidenschaftlichen Klassikliebhaberin Aline Foriel-Destezet. Die Milliardärin unterstützt rund 50 renommierte europäische Institutionen und Ensembles, darunter 14 Einrichtungen in der Schweiz, unter anderem auch das Gstaad Menuhin Festival, die Sommets Musicaux oder das Gstaad New Year Music Festival. Mit ihrem Wunsch, dass der Stargeiger Renaud Capuçon die künstlerische Leitung der Akademie übernehmen solle, habe die Mäzenin im Jahr 2019 eine fünfjährige Mäzenatsvereinbarung unterzeichnet, die laut Stiftungsratspräsident Charles Méla nach deren Ablauf fortgesetzt werden sollte. Dies war nun aber nicht der Fall.
Der Stein des Anstosses
Stein des Anstosses war unter anderem ein Winzerhaus in Tartegnin unweit vom Institut Le Rosey in Rolle, wo die Akademie seit 2015 residiert. Ratspräsident Méla erwarb das Winzerhaus für die Stiftung, weil es den Studenten an Arbeitsräumen gefehlt habe und die Wohnungsmieten das Budget belastet hätten, heisst es dazu in «Le Temps». Die Mäzenin wollte zwar keine weiteren Ausgaben für die IMMA tätigen, sei aber über den Kauf des Winzerhauses informiert gewesen. Daher habe sich Charles Méla äusserst erstaunt gezeigt, dass Aline Foriel-Destezet nach Ablauf des fünfjährigen Vertrages das Mäzenat nicht verlängerte. Laut «Le Temps» war die Begründung «schlechte interne Verwaltung und eine unsachgemässe Verwendung der Spende, insbesondere im Zusammenhang mit dem Kauf des Hauses in Tartegnin, das nicht zu den Projekten gehörte, die gemäss der Vereinbarung gefördert werden sollten und an dem sie sich nicht finanziell beteiligen wollte».
Da die IMMA nun keine Ressourcen mehr hatte, kündigte der Stiftungsrat Ende Juni alle Verträge der fest angestellten Professoren, einschliesslich des künstlerischen Leiters Renaud Capuçon. Méla selbst kündigte am 18. Juni.
Überdurchschnittlich hohe Gehälter
Laut «Le Temps» traten die Schwierigkeiten der Akademie zu einem Zeitpunkt auf, als sie sich unter der Leitung von Renaud Capuçon als besonders verschwenderisch erwies. So seien die Honorare der Unterrichtenden sehr hoch gewesen. Sie hätten sich teilweise bis auf 20’000 Franken für einen Unterrichtstag belaufen, während gemäss der Recherchen der Westschweizer Zeitung an den besten europäischen Konservatorien höchstens 1500 Franken pro Tag gezahlt werden. Demzufolge habe sich der Anteil der Gehälter für die Professoren auf 1,2 Millionen Franken pro Jahr belaufen, was 60 Prozent des Budgets ausgemacht habe.
Neuorientierung der Mäzenin
Ein weiterer Grund für den Rückzug der Mäzenin sei, dass sie «ihre Kräfte auf ihr Projekt in Evian konzentrieren» wolle, wie aus der Stellungnahme ihres «family office» zitiert wird. In Evian, wo Renaud Capuçon 2022 die Leitung der Rencontres musicales übernommen hat, werde ein spektakulärer Konzertsaal in Form einer Muschel erbaut, der 2025 eröffnet werden soll.
Der IMMA-Stiftungsrat rund um Vizepräsident Andrea E. Rusca äussert sich zur Weiterführung der IMMA
Aufgrund der diversen Medienmitteilungen der letzten Tage – speziell im französischsprachigen Raum («Le Temps», «24heures» usw.) – nimmt auch der neu formierte Stiftungsrat der IMMA (Internationale Menuhin-Musik-Akademie) Stellung.
Dieser bestätigt, dass die IMMA aktuell durch einen voll handlungsfähigen Stiftungsrat aus neuen Mitgliedern geführt wird. Sein Hauptziel sei es, «diese traditionsreiche Stiftung, welche 1977 mit Yehudi Menuhin zusammen in Gstaad gegründet wurde, am Leben zu erhalten und basierend auf den humanistischen und musikalischen Werten seines Gründers in die Zukunft zu führen».
Der Stiftungsrat bedauere die aktuelle Lage dieser wertvollen Institution sehr, insbesondere die diversen Entscheidungen der ehemaligen Stiftungsräte, welche dies zu verantworten hätten. Er arbeite «mit vollem Einsatz dafür, das Vertrauen in die IMMA wiederherzustellen», ist in der Medienmitteilung zu lesen. Dazu bemühe er sich unter anderem um einen konstruktiven Dialog mit der ehemaligen Mäzenin, um eine befriedigende Lösung für alle beteiligten Parteien zu finden. Den ehemaligen, permanenten Lehrern Oleg Kaskiv, Pablo de Naverán und Ivan Vukcevic sei eine Fortführung ihres Arbeitsverhältnisses in Aussicht gestellt worden, was diese jedoch abgelehnt hätten. «Mit Erstaunen nimmt der Stiftungsrat nun zur Kenntnis, dass sie offensichtlich mit Jeremy Menuhin zusammenarbeiten wollen.»
Der neue Stiftungsrat der IMMA betont ausserdem, dass Jeremy Menuhin in keiner Funktion für die IMMA tätig sei. «Seine private Initiative zu einer Neugründung einer Akademie hat mit unserer Institution nichts zu tun.» Der Stiftungsrat bedauere sehr, dass Jeremy Menuhin nicht das Gespräch mit ihm gesucht habe.
Laut eigener Aussagen hat der Stiftungsrat parallel zu den äusserst anspruchsvollen Turnaround-Arbeiten ein künstlerisches Konzept erarbeitet, welches die baldmöglichste Fortführung des Studiums der IMMA-Studenten ermöglichen soll. Renommierte Professoren der Royal Danish Academy Copenhague, der Music University Wien, der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin oder der Music University Helsinki hätten zugesagt, an der IMMA zu unterrichten. Sowohl unter den vorgesehenen permanenten wie auch den Gastprofessoren befinden sich aktive Streicher der Berliner Philharmoniker. «Diese sorgfältige Auswahl an ausgewiesenen Pädagogen und Meistern auf ihren Instrumenten soll dem Anspruch der IMMA, eine der besten Streicherakademien zu sein, wieder gerecht werden», so der neue IMMA-Stiftungsrat.
Bezüglich des Ortes sieht der Stiftungsrat die Zukunft der IMMA im Saanenland: «Da liegen ihre Wurzeln und da findet sie wieder ihr fruchtbares Umfeld.» Kooperationen mit den anderen ebenso ansässigen Musikinstitutionen würden sich anbieten und die Aktivitäten dieser legendären Institution enorm bereichern.
Mit diesen Informationen hofft der Stiftungsrat, «etwas Klarheit geschaffen zu haben, Falschinformationen korrigiert zu haben und einen Ausblick einer zukünftigen IMMA aufgezeigt zu haben, der Hoffnung weckt und zu positiven, konstruktiven Gesprächen anregt».
PD/SWO
Jeremy Menuhin äussert sich zur Weiterführung in Form einer Menuhin-Akademie
In einer Medienmitteilung bekräftigt Yehudi Menuhins Sohn Jeremy, dass er es aufgrund der aktuellen Entwicklungen und der in der Presse veröffentlichten Artikel als seine Pflicht und Verantwortung ansehe, einzugreifen und das Erbe seines Vaters zu bewahren.
«Es ist mir eine grosse Freude, die Gründung der ‹Menuhin Akademie› unter meiner Leitung bekannt zu geben», schreibt Jeremy Menuhin. «Nach fast 50 Jahren des Dienstes an der Musik bewahrt diese neu gegründete Institution die Prinzipien, die mein Vater Yehudi Menuhin und sein einzigartiger Schüler Alberto Lysy vorgegeben haben und die gemeinsam die Mission übernahmen, das weiterzugeben, was Joseph Szigeti ‹l’héritage› nannte.»
Er beschreibt in der Medienmitteilung Yehudi Menuhins Vermächtnis, das auch heute noch «kraftvoll nachklingt». Als Beispiele nennt er die 1963 gegründete Yehudi Menuhin School in Grossbritannien, welche die Eröffnung einer Menuhin-Schule in Qingdao, China, im Jahr 2022 inspiriert habe, oder auch die Menuhin-Stiftung, die seit 1976 in 13 Ländern tätig ist und benachteiligten Kindern in über 500 Schulen die Möglichkeit gegeben habe, mit Musik, Theater und Tanz in Berührung zu kommen. «Live Music Now» bringe die heilende Kraft der Musik in Pflegeheime, Gefängnisse, Hospize oder in Gemeinden in ganz Südafrika. Als weiteres Vermächtnis führt er den Yehudi-Menuhin-Wettbewerb an, der seit seiner Gründung 1983 der wichtigste internationale Wettbewerb für junge Geiger unter 22 Jahren sei und vielen Preisträgern zu einer «bemerkenswerten internationalen Karriere» verholfen habe. «Ich hatte das Glück, von diesem Erbe geprägt zu werden», schreibt er. Dank Hunderten von Konzerten mit seinem Vater und unter den Fittichen von Nadia Boulanger, die Yehudi Menuhin zutiefst bewunderte, lernte er durch deren Hingabe an die Musik, wie wichtig eine Kultur ist, die der Musik Vorrang vor der Selbstdarstellung einräumt. Daher sei es nun seine Aufgabe, sicherzustellen, dass die Menuhin Akademie weiterhin die Werte verkörpert, die ihre Gründer Yehudi Menuhin und Alberto Lysy vertreten haben, und talentierte Schüler fördert, welche der Musik dienen, «indem sie deren tiefere Bedeutung erschliessen, anstatt lediglich ihre Instrumente gekonnt zu spielen».
Er gibt bekannt, dass das akademische Studium wie gewohnt wieder aufgenommen wird und alle Schüler ihre Studien ohne Unterbrechung fortsetzen könnten. «Ich bin ebenfalls stolz und erleichtert, dass unser Lehrerteam an meiner Seite bleiben wird, um die Kontinuität dieser wunderbaren akademischen Mission zu gewährleisten», schreibt er. Denn seine Professoren – Oleg Kaskiv (Violine), Ivan Vukcevic (Bratsche) und Pablo de Naverán (Cello) – seien durch die Lehren von Alberto Lysy geprägt worden. Sie hätten diese Tradition aufrechterhalten und ein Niveau an Musikalität in den Absolventen der Akademie gefördert, das sie darauf vorbereitet, herausragenden Kammermusikensembles beizutreten, Solisten zu werden oder führende Rollen in erstklassigen Orchestern zu übernehmen.
«Ich freue mich auf dieses neue Kapitel in der Geschichte der Akademie und fühle mich geehrt, die Verantwortung für die Bewahrung und Weiterentwicklung dieses aussergewöhnlichen Erbes zu übernehmen.»
PD/SWO
DIE IMMA
Die International Menuhin Music Academy (IMMA) wurde 1977 von Yehudi Menuhin und Alberto Lysy gegründet. Erster Studienleiter war Oleg Kaskiv. Ziel der Akademie ist, junge Musiker aus verschiedenen Kulturen zusammenzubringen, um ihnen eine Ausbildung auf höchstem Niveau und die Möglichkeit zu bieten, auf der Bühne aufzutreten – im Sinne eines humanistischen Ideals der Toleranz und Weltoffenheit. Seit 2015 residiert die IMMA im Institut Le Rosey in Rolle, 2019 übernahm Renaud Capuçon die künstlerische Leitung.
SWO