Kleider machen nicht nur Leute, sondern auch Theater

  29.07.2024 Kultur

Gewandnäherin Iris Gasser sorgt mit ihren Gewändern für die grossen Auftritte beim Freilichttheater «Der Chrüzwäg vom Castellan». Ob das Kleid der Gräfin Antoinette, der Gugel des Herrn von Divonne oder Pater Florians Rock: Die Gewänder sind so authentisch wie möglich. Vom Stoff über den Schnitt bis zu den Accessoires.

KEREM S. MAURER
«Der Schwarze Steff war meine Einstiegsdroge», sagt sie lachend. Damals durfte Iris Gasser als Kostümassistenz an den Kleidern der Schauspielerinnen und Schauspielern mitwirken. Heute, ein Freilichttheater und sechs Jahre später, ist sie die Hauptverantwortliche für die Kleider und Gewänder beim «Castellan». Wer jetzt denkt, mit «Es reicht, wenn Hut und Rock so aussehen, als wären sie im Mittelalter Mode gewesen», liegt zwar nicht völlig falsch, aber auch nicht ganz richtig, denn: «Von den Unterhemden über die Beinkleider, den Rock und den Gugel stellen wir alles so authentisch wie nur irgendmöglich her», erklärt Iris Gasser. Jede Falte sitzt, die Stoffe sind handverlesen und in den Gewändern steckt enorm viel Handarbeit.

Seriöser Hintergrund
«Ich orientiere mich an Gemälden aus der entsprechenden Zeit, an historischen Darstellungen in Kirchen und an aus dem Mittelalter überlieferten Illustrationen», sagt Iris Gasser und ergänzt, historische Bücher, die früher in den Klöstern illustriert wurden, seien in Sachen Gewändern und Details, wie man was getragen hatte, sehr aufschlussreich. Um ihre Kenntnisse die Gewänder betreffend zu vertiefen, schloss sie sich dem Mittelalterverein Bern und der mittelalterlichen Tanzgruppe «Les Pieds Gauches» an. Sie nimmt seitdem regelmässig an Mittelalterfesten teil, besucht Mittelaltermärkte und animiert dort das Publikum, bei den authentischen Tänzen aus dem 15. Jahrhundert, welche «Les Pieds Gauches» aufführen, mitzumachen. Sie habe unterschätzt, wie seriös das ganze Drumherum bei Mittelalterfesten betrieben werde. «Das sind nicht einfach blosse Judihui-Feste, wo man Bier trinkt und mit dem Trinkhorn herumjohlt», sagt sie augenzwinkernd. Sie hätten mit dem Verein Museen besucht, Textilien angeschaut, an Schlossführungen teilgenommen und sogar eine historische Führung im Kloster Interlaken genossen. «Mich hat immer interessiert, was hinter den Gewändern steckt. Wer durfte was wann tragen? Wie war das mit dem Pelz? Wer durfte Schmuck anziehen? Und welche Herren durften ein wie langes Wams tragen?» Jedes Kleidungsstück habe seine Geschichte und seine Bedeutung, weiss die Gewandnäherin. Die historischen Hintergründe hätten sie fasziniert, ein Universum habe sich ihr aufgetan. Dass das ganze letztlich mit dem Mittelalter zu tun hat, sei dennoch so etwas wie Zufall gewesen. Angefangen habe ihre Affinität zum Mittelalter und den damaligen Kleidungsgewohnheiten und -vorschriften bei ihrer Tätigkeit als Kostümassistenz für das Freilichttheater «Der Schwarz Steff». Hätte dieses Theater in einer anderen Zeit gespielt, hätte sie heute vielleicht eine Vorliebe für den Barock, den Rokoko oder die 1920er-Jahre.

Aus dem Nähkästchen
Doch sich nur von der Faszination beflügeln zu lassen, reicht nicht, um solche Gewänder nähen zu können. Da braucht es viel Gewusst-wie und eine gewisse Liebe zu Nadel und Faden. «Meine Mutter ist gelernte Trachtenschneiderin, wir hatten zu Hause ein Nähatelier», plaudert Iris Gasser aus dem Nähkästchen. Dieses Atelier sei ihr Paradies gewesen. Ihre Mutter habe viele Kleider der «Damen aus Gstaad» geändert. Dior, Versace und Chanel waren für die kleine Iris keine blossen Labels, sondern pure Verheissung, Jean Paul Gautier ihr «absolutes Vorbild» – wegen der vielen bunten Farben. Doch die Liebe zu feinen Stoffen, Schubladen voller Knöpfe und Reissverschlüsse geriet im Lauf der Zeit in Vergessenheit und erlebte erst während Iris Gassers Ausbildung zur Handarbeitslehrerin eine Renaissance. «Durch meine Lehrerin, die mich inspiriert und motiviert hat, kam ich zurück in jene Welt, die mich schon als Kind so fasziniert hatte», sagt sie.


ZUR PERSON

Iris Gasser, geborene von Mühlenen, ist in der Gruben aufgewachsen. Heute ist die 53-Jährige in Blankenburg wohnhaft und arbeitet als Lehrerin für Sport und Werken, nicht-Textil und Textil. Eben hat sie die Ausbildung zur Erwachsenenbildnerin abgeschlossen und überlegt sich, in der Volkshochschule zu unterrichten.

Die Mutter einer 18-jährigen Tochter ist aktiv beim Mittelalterverein Bern dabei und Mitglied der Tanzgruppe «Les Pieds Gauches», einem Ensemble, das Tänze aus dem 15. Jahrhundert zu ebensolchen Klängen aufführt und an Mittelalterfesten das Publikum zum Mitmachen animiert.

In ihrer Freizeit näht sie die Kleider und Gewänder für die Schauspielenden des Freilichttheaters «Der Chrüzwäg vom Castellan».

KMA


Iris Gasser im Interview 

«Dieses Theater ist ein Gesamtkunstwerk»

Sie wirkt hinter den Kulissen, damit vor den Kulissen alle richtig daherkommen. Im Interview erzählt die Gewandnäherin Iris Gasser aus der «feinstofflichen» Welt und verrät, warum sie selber nie auf einer Bühne stehen will und welche grosse Filmfigur sie gerne einmal einkleiden würde.

Wie viele Gewänder mussten Sie für das Freilichttheater «Der Chrüzwäg vom Castellan» anfertigen?

Es gibt 22 Sprechrollen und 15 Statisten. Also 37 Personen, die auf der Bühne stehen. Die müssen alle authentisch gekleidet sein. Die Gewänder der vier Edelleute sind sehr aufwendig. Doch für die Statisten kann ich viele Kleider vom «Der Schwarz Steff» wiederverwenden.

Liegen zwischen «Der Schwarz Steff», der in der Mitte des 16. Jahrhunderts spielte und dem «Castellan» Ende des 14. Jahrhunderts modetechnisch gesehen nicht Welten?

Nein. Modeströmungen waren damals nicht so schnelllebig wie heute. Mode veränderte sich im Mittelalter langsam und man verwendete über Jahrhunderte dieselben Stoffe und Schnitte. So gesehen passen die Kleider vom «Der Schwarz Steff» auch gut für den «Castellan». Wenn nötig, nehme ich einfache Modifikationen vor.

Wie lange dauert es, bis ein Edelleutegewand fertig ist?

Das Kleid der Greyerzer Gräfin Antoinette von Vaugrenant beispielsweise ist von der Idee über das Zuschneiden, Zusammennähen bis zum Abändern und Abstecken innerhalb von drei Tagen entstanden. Zwei Personen haben Vollzeit daran gearbeitet. Darin steckt sehr viel Handarbeit.

Von wie vielen Helferinnen werden Sie unterstützt?

Grundsätzlich bin ich allein unterwegs, ziehe aber hin und wieder eine Beraterin zu Rate. Daneben werde ich von fünf Frauen unterstützt, die stunden- oder tageweise zum Nähen kommen.

Wer sind diese guten Feen?

Da ist zum Beispiel meine Mami, Susanne von Mühlenen, sowie Martha Reichenbach, Elsbeth Bach, Stefanie Schmied und Anna Sojcic. Und einmal war sogar Ruth Domke vom Regieteam hier und hat genäht.

Ich sehe in Ihrem Atelier aber nur eine Nähmaschine...

Ja, das ist so. Wenn ich zum Beispiel ein Saum am Kleid der Gräfin nähen muss, sind das sechs Meter Stoff. Das mache ich von Hand, weil sich das so gehört. Auch sämtliche Knopflöcher werden alle von Hand gemacht. Bei so viel Handarbeit reicht eine Nähmaschine völlig aus.

Ist das Gewand der Gräfin aufgrund historischer Quellen gefertigt worden, also «echt mittelalterlich»?

Ja, das ist – wie die anderen Kleider auch – historisch belegt. Dieses besteht aus Seide. Auch die Embleme sind nach historischen Vorlagen, die einst in Venedig hergestellt wurden, neu gewoben. Das Kleid hat ein Futter aus Leinen und einen Pelzkragen.

Die Kleider sehen also nicht nur mittelalterlich aus, sie sind es quasi auch?

Genau. Es ist mein Anspruch, möglichst authentische Kleider aus der entsprechenden Zeit zu machen. Wenn ich auf einem Gemälde gesehen habe, wie ein Kleid am Ende auszusehen hat, gebe ich nicht auf, bis es genauso daherkommt. Es ist mein Ehrgeiz, dass jede Falte sitzt. Ausserdem sind diese Stoffe und die Machart sehr robust, sodass sie kaum kaputt gehen. Instandhaltungsarbeiten sind möglich.

Woher kommt dieser Ehrgeiz?

Meine Mutter war als Trachtenschneiderin an sehr strenge Regeln beim Nähen gebunden. Das hat wohl auf mich abgefärbt.

Woher beziehen Sie die Stoffe?

Oft frage ich beim Mittelalterverein nach, wo ich was beschaffen kann. So bekomme ich Adressen und kann mir die Sachen anschauen. Die Seide für das Kleid der Gräfin war ein Glücksfall. Eine meiner Freundinnen nähte für sich ein Kleid und hat mir überlassen, was von der Seide übrig blieb – als Gegenleistung habe ich ihr das Kleid abgesteckt.

Geht es immer so einfach?

Nein, nicht immer. Letzthin habe ich in Sibylle Schopfers Geschäft einen wunderschönen roten Wollstoffballen gesehen. Da ihn niemand haben wollte, machte mir Frau Schopfer einen sehr fairen Sponsorenpreis. Aus diesem roten Wollstoff ist letztlich das Gewand von Herrn von Divonne entstanden. Auch Müller-Hirschi Interieur in Zweisimmen hat wunderbare edle Stoffe. Von dort kommt beispielsweise der Seidensamt, den ich für den «Gugel» des Paters nutzte.

Das klingt alles nach grossem Aufwand. Was kosten diese Kleider und wer bezahlt das alles?

Andere Leute gehen Biken, Wandern oder Joggen und werden dafür ja auch nicht bezahlt. Ich bin im Moment von diesem Hobby begeistert. Ich muss ja nicht davon leben. Das Material lasse ich mir erstatten, die Arbeit leiste ich aus freien Stücken. Und es sind ja nur vier Edelleute in diesem Stück, die anderen sind einfacher gekleidet, die brauchen nur Wollhosen und Leinenhemden. Vieles wird durch Sponsoring abgedeckt. Und ich selbst habe in den letzten drei Jahren viele Stoffe gesammelt. Auch in Brockenstuben. Ich bin den Sponsoren sehr dankbar, bei denen ich ab und zu die Lager ausräumen darf. Seien es Reste von Leder, Stoffen oder Pelzen.

Was bedeutet es Ihnen, die Schauspielenden an diesem Theater auszustaffieren?

Ich bin sehr dankbar, dass ich das machen darf. Dieses Theater ist ein Gesamtkunstwerk, das ich ausschmücken darf. Die Kleider machen die verschiedenen Figuren greifbar und helfen dem Publikum, in die Zeit einzutauchen, in der das Theater spielt.

Würden Sie künftig für weitere Freilicht- oder Theaterproduktionen zur Verfügung stehen?

Jedes Theaterstück ist ein in sich abgeschlossenes Projekt. Mal schauen, ob noch was auf mich zukommt. Ein grosser Traum von mir ist es, einmal bei einem grossen Kostümfilm dabei zu sein. Oder ich würde gerne einmal den Karneval von Venedig in einem selbst gemachten Kleid besuchen. An der Basler Fasnacht war ich schon einmal mit einer Schulklasse aus Schönried.

Welche Filmfigur des grossen Kinos würden Sie gerne einmal einkleiden?

Es spielt gar nicht einmal so eine Rolle, wer es ist. Hauptsache, die Kleider brauchen sehr viel Stoff und sind sehr aufwendig.

Wenn Sie alle Ihre schönen Kleider sehen, «gluschtet» es Sie nicht, selbst einmal so gewandet auf einer Bühne zu stehen?

Nein, dafür bin ich nicht geeignet. Ich bin wirklich die Gewandnäherin, das ist meine Passion. Einen Text eins zu eins wiederzugeben, ist nicht mein Ding. Ich bin zu kreativ, würde an jeder Aufführung einen anderen Text sagen und würde damit die anderen plagen. Das werde ich schön sein lassen. Ich tanze, aber ich spreche nicht. 


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