«Wenn dich jemand mit dem Auto mitnehmen will, Mama, bitte steig ein!»

  01.04.2022 Schönried, Gesellschaft, Saanenland

Max Schwenter ist seit 17 Jahren mit der Ukrainerin Olena Kyrylova verheiratet. Letzte Woche ist es ihnen gelungen, Schwiegermama Ludmilla (77) aus der Ukraine nach Schönried zu holen. Und mit ihr zusammen auch Lena Dobrovolska und ihren Sohn Yvan. Olena schildert ihre dramatische Flucht.

KEREM S. MAURER
Als vor über einem Monat an der ukrainischen Grenze russische Truppen zusammengezogen wurden, dachte Olena Kyrylova in Schönried zum ersten Mal daran, ihre Mutter Ludmilla Kyrylova, die in Tschernihiw – einer ukrainischen Stadt mit 285’000 Einwohnern, nördlich von Kiew – lebte, zu sich in Sicherheit zu holen. Doch die 77-Jährige wehrte ab, wollte ihre Heimat nicht verlassen. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass sie eines Tages in einer Nacht- und Nebelaktion und nur mit einem Plastiksack voller Habseligkeiten in fremden Autos – ohne Licht und über Nebenstrassen – ihre Heimatstadt verlassen müsste. Angewiesen auf die Hilfe und Unterstützung wildfremder Menschen.

Zuflucht im Sowjetbunker
«Tschernihiw liegt auf dem kürzesten Weg von Weissrussland nach Kiew. Genau dort, wo unsere Jungs ihr Leben riskieren, um russische Panzer aufzuhalten, damit diese nicht in die ukrainische Hauptstadt vordringen», erzählt Olena Kyrylova. Ihre Stimme ist leise, manchmal brüchig. Sie atmet tief durch und erzählt von einem Denkmal aus sowjetrussischen Zeiten, welches im Dreiländereck Weissrussland, Russland und Ukraine steht und stolz die Aufschrift «Ewige Freundschaft» trägt. Was ist nur daraus geworden? Als die Ukraine «aus dem Nichts heraus» angegriffen wurde, wie Olena erzählt, hörte sie täglich Nachrichten, stand mit ihrer Mama in Verbindung, so gut es ging. In unmittelbarer Nachbarschaft gebe es einen alten Sowjetbunker, ein Mahnmal aus dem Kalten Krieg. Dorthin haben sich die Bewohnerinnen der Stadt zurückgezogen. Doch die Luftangriffe wurden immer zahlreicher, die Sirenen heulten praktisch den ganzen Tag. «Ursprünglich wurden nur strategische Ziele bombardiert, dann zunehmend auch die Wohnhäuser», erzählt die Ukrainerin. Wer sich im Bunker versteckte, konnte morgens nur kurz raus, um zu duschen oder zu essen. Nach 16 Tagen Krieg gab es in halb Tschernihiw keinen Strom mehr, kein Wasser und keine Heizung. Im Bunker wurden die Kinder krank und Ludmilla konnte sich wegen des feuchtkalten Klimas und der Beschwerden, die sie in den Beinen hatte, nach kurzer Zeit nicht mehr im Bunker aufhalten und blieb deshalb zu Hause.

Jüdischer Verein evakuiert Menschen aus Tschernihiw
«Eines Tages hörten wir von Bekannten, die aus der Stadt hinausgekommen seien», berichtet Olena Kyrylova. Hoffnung keimte auf. «Unser Bürgermeister hat immer gesagt, man warte auf einen grünen Korridor, es sei zu gefährlich, die Stadt zu verlassen», sagt sie und fühlte sich von ihrer Stadt im Stich gelassen. Doch es gab eine andere Möglichkeit. Olena erhielt am Freitag, 11. März aus Schweden einen Hinweis, wonach eine Jüdin namens Jennie Karbet private Flüchtlingskonvois organisierte, um Menschen aus Tschernihiw zu evakuieren. Kurz entschlossen rief sie nach Israel an und fragte, ob es auch für ihre Mama und eine Freundin mit Sohn Plätze in einem der Autos gäbe. So kamen die drei auf Karbets Liste. Noch am selben Tag rief Olena Kyrylova ihre Mama an. Die Verbindung wurde immer schlechter, Strom gab es keinen mehr, um die Akkus zu laden. Der letzte Satz, den sie ihrer Mama noch sagen konnte, war: «Wenn dich jemand mit dem Auto mitnehmen will, Mama, bitte steig ein!», erzählte sie, dann sei die Leitung tot gewesen. Am 13. März hatte es für Ludmilla, Lena und Yvan Platz im Rettungskonvoi des jüdischen Vereins. Die Rettung war da, aber die Verbindung zu Ludmilla war unterbrochen.

Erster Halt: Synagoge in Kiew
Es gab in Tschernihiw eine freiwillige Helferin, die Mama Ludmilla schon früher des Öfteren geholfen hatte. Sie wohnte im Stadtzentrum, wo es noch Strom gab. Olena hat sie angerufen und am darauffolgenden Tag ging die Helferin zu Fuss durch die halbe Stadt, um Ludmilla mitzuteilen, dass es in Jennie Karbets Konvoi einen Platz für sie gäbe. Doch dieser startete vom anderen Ende der Stadt aus. Wie sollte Ludmilla zum Treffpunkt gelangen? Diesmal kam die gute Nachricht von Lena Dobrovolska: Sie hatte jemanden gefunden, der Ludmilla zum Treffpunkt des jüdischen Vereins brachte. «Irgendwann habe ich ein Foto bekommen, das meine Mama zeigte, wie sie in einem der Busse sass», erzählt Olena Kyrylova.

Mit acht kleinen Bussen fuhren die Flüchtenden am 13. März nachts, ohne Licht und auf Nebenstrassen, von Tschernihiw nach Kiew. Für die Strecke, die normalerweise eineinhalb Stunden dauert, brauchten die Busse fünf Stunden. Und nur, weil der Konvoi von Polizeiautos begleitet wurde, durfte er trotz nächtlicher Ausgangssperre nach Kiew hineinfahren. In der Synagoge wurden die Flüchtenden vom jüdischen Verein in Empfang genommen, verpflegt und in Hotels untergebracht, wo sie sanitäre Anlagen und etwas Ruhe fanden. «Ich bin dem jüdischen Verein so dankbar, sie haben alles perfekt organisiert», sagt Olena Kyrylova.

Zwei Kilometer Fussmarsch an der Grenze
Gleich darauf ging es am 14. März bereits um zwei Uhr in der Früh wieder los. Von der Synagoge aus wurden die Flüchtenden in drei grossen Bussen aus Kiew hinausgebracht. Wieder wusste niemand, ob die Busse ihren Weg fanden oder von Bomben getroffen wurden. Die Reise ging an die 450 Kilometer entfernte moldawische Grenze. «Als Mama noch 300 Kilometer von der moldawischen Grenze weg war, konnte ich erstmals wieder durchatmen», erinnert sich Olena Kyrylova. Und das war auch der Tag, an dem Max Schwenter mit Olenas Sohn Yehor abends um 22 Uhr mit einem neunplätzigen Bus von Bern aus startete, um die Geflüchteten an der Grenze zwischen Rumänien und Moldawien abzuholen. «Wir sind fast 25 Stunden durchgefahren, um pünktlich vor Ort zu sein», sagt Max Schwenter.

Wieder verbrachten die Flüchtenden viele Stunden in einem Bus, ohne Toilette und ohne Verpflegung. Doch das Schlimmste für Ludmilla war, dass alle Flüchtenden die Grenze zwischen der Ukraine und Moldawien zu Fuss überqueren mussten. Das bedeutete zwei Kilometer Fussmarsch, die Ludmilla nur sehr schwer bewältigen konnte. Danach wurde sie mit einem Bus nach Chis¸ inaˇ u gebracht, wo sie übernachten konnten. Von hier aus organisierte Olena Kyrylova am kommenden Morgen ein Fahrzeug, welches Ludmilla bis an die rumänische-moldawische Grenze brachte. Von dort aus verteilten sich die Flüchtlinge und suchten ihre individuellen Ziele auf. Ludmilla wurde von einem Grenzbeamten über die Grenze nach Rumänien gebracht, zu jener Autobahnraststätte, wo ihr Enkelsohn Yehor und ihr Schwiegersohn Max Schwenter sie in Empfang nahmen. «Bei uns waren sie in Sicherheit und wir beschlossen, uns für die Rückreise etwas mehr Zeit zu nehmen», ergänzt Schwenter. Sie übernachtetet auf der Rückreise in Rumänien und in München. «Am letzten Freitag, 18. März sind wir hier angekommen.» Eigentlich hätten fünf Personen bei Schwenters mitfahren sollen, aber ein Paar hatte sich spontan entschieden, nach Polen zu gehen.

Und wie geht es jetzt weiter?
Lena Dobrovolska will zusammen mit Sohn Yvan schnellstmöglichst zurück in die Ukraine, wo sie noch Angehörige haben. Für Max Schwenter ist klar, dass eine Rückreise in die Ukraine für seine Schwiegermutter keine Option sein darf. «Sie ist 77 Jahre alt und hat in der Ukraine keine Angehörigen. Ihre Tochter wohnt hier. Für mich ist klar, dass auch sie hier bleibt», sagt er entschlossen. «Natürlich war ich sehr glücklich, als wir die drei bei uns zu Hause begrüssen konnten», sagt Olena Kyrylova, «aber der schwere Stein, der in meiner Brust liegt wegen der ganzen Geschichte um meine Heimat, geht natürlich nicht so schnell wieder weg.» Und noch etwas will Olena Kyrylova, die sich, sobald die ersten offiziellen Flüchtlinge aus der Ukraine in der Region eintreffen, als Dolmetscherin zur Verfügung stellt, an dieser Stelle noch sagen: «Ich bin meinen Schweizer Freunden und Bekannten sehr dankbar für die grossartige Unterstützung.»

 


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