Der «Sky Boat Song» als taktischer Zug
05.10.2023 KonzertRemo von Siebenthal, der in Gruben aufgewachsen ist und als passionierter Es-Tuba-Bläser in der Brass Band Berner Oberland und der Musique Militaire de Rougemont spielt, war am diesjährigen Royal Edinburgh Military Tattoo dabei – in den Reihen der Swiss Armed Forces ...
Remo von Siebenthal, der in Gruben aufgewachsen ist und als passionierter Es-Tuba-Bläser in der Brass Band Berner Oberland und der Musique Militaire de Rougemont spielt, war am diesjährigen Royal Edinburgh Military Tattoo dabei – in den Reihen der Swiss Armed Forces Central Band. Der Anlass stand in diesem Jahr unter dem Motto «Stories» und auch für Remo von Siebenthal gab es danach einiges zu erzählen. Der «Anzeiger von Saanen» durfte lauschen.
JENNY STERCHI
Remo von Siebenthal, wie fühlt es sich an, an der Seite seiner Musikerkollegen der Swiss Armed Forces Central Band in ein Stadion mit 9000 besetzten Plätzen einzumarschieren?
Eigentlich kann man es nur schwer beschreiben. Das Royal Edinburgh Military Tattoo ist auf der ganzen Welt bekannt und ein prestigeträchtiger Anlass mit langer Geschichte an einem ehrwürdigen Ort. Die Atmosphäre ist besonders, das Programm beeindruckend und die Musik unvergleichlich.
Wann haben Sie erfahren, dass Sie nach Schottland an das legendäre Royal Edinburgh Military Tattoo reisen können?
Da der administrative Aufwand für einen solchen Anlass sehr gross ist, haben die Verantwortlichen des Schweizer Militärs schon zwei Jahre im Voraus von der Teilnahme gewusst. Bewilligungen mussten eingeholt, das Budget gemacht und geplant werden. Als wir im Herbst 2022 die Liste unserer Wiederholungskurseinsätze (WK) fürs kommende Jahr erhalten haben, war für mich klar, dass ich mich einschreiben werde. Als ich später erfuhr, dass ich für den Einsatz eingeteilt wurde, freute ich mich sehr.
Also war das ein WK für Sie?
Ja, ich leiste so meine Diensttage, an denen ich mich mit meinem Hobby beschäftigen darf, in einer hoch motivierten Truppe, die das Schweizer Militär auf kultureller Ebene repräsentiert. Ich sehe es demnach eher als Privileg als eine Pflicht, diesen WK absolviert zu haben.
Wie lange hatte das Orchester Zeit, um die Stücke einzustudieren?
Wir erhielten zwei Monate vor dem ersten Auftritt die Noten. Es dauerte unverhofft länger, denn das Ringen um die Rechte für ein ursprünglich ausgewähltes Stück erwies sich als sehr zäh, sodass ein Ausweichstück gefunden werden musste.
Nur zwei Monate? Von wie vielen Stücken reden wir?
Wir haben Ausschnitte aus fünf verschiedenen Stücken präsentiert. Mit «El Dorado» hatten wir einen epischen Auftakt, zu dem wir einmarschiert sind. Mit «Wilhelm Tell» haben wir einen patriotischen Akzent gesetzt, unterstützt von fünf Alphörnern und einem auf die alten Gemäuer projizierten Apfelschuss. Der Titel «The Race» von Yello bot Raum für Swissness und Showeffekte. Ein taktischer Zug dürfte der «Sky Boat Song» – ein traditionelles schottisches Lied – gewesen sein. Mit der auf Alphörnern gespielten Melodie haben wir sicher das einheimische Publikum besonders berührt. Zum Ausmarsch spielten wir die Melodie aus dem Film «How to Train Your Dragon».
Für all das nur zwei Monate?
Ja, da hiess es, gleich daheim anfangen zu üben, sobald man die Noten hatte. Ich war zu dieser Zeit auf Reisen, genoss Ferien in Kanada. Ich hatte mein Mundstück dabei und arbeitete mich ein. Mir blieben nach meiner Heimkehr vier Tage, um mit dem kompletten Instrument zu üben und die Noten auswendig zu beherrschen. Mitte Juli begann der WK mit der Vorbereitungswoche in Sursee. Und da gab es keine Zeit mehr, Passagen zu üben, da mussten die Sachen sitzen. Denn die Musik war nicht das Schwierigste bei diesem Projekt.
Was war das Schwierigste?
Die Herausforderung bestand vielmehr darin, die Schrittkombinationen und Bandformationen zur Musik einzustudieren. Also parallel zur hoffentlich richtig gespielten Musik auch in die richtige Richtung zu laufen.
Oh mein Gott, …
Genau. Wir haben in einer Dreifachturnhalle unsere Schritte, das Wenden und die Formationen geübt, nachdem wir in einer PowerPoint-Präsentation unsere Position verfolgen konnten. Anhand von Signalhütchen alle anderthalb Meter erhielten wir das Gefühl für einen Schritt von 75 Zentimetern. Zuerst ohne Instrument. Am dritten Tag setzten wir dann Musik und Schritte zusammen und waren am Abend etwas unsicher, ob das jemals klappen würde.
Wie gingen Sie gegen diese Zweifel an?
Mit dem Austausch war es schon viel einfacher, denn alle hatten die gleichen Schwierigkeiten. Und dennoch waren alle motiviert und sicher war es auch hilfreich, dass wir Musiker mit Tattoo-Erfahrungen in unseren Reihen hatten. Nicht zuletzt halfen die Zuversicht und die verlässlichen Einschätzungen des musikalischen Leiters Oberstleutnant Aldo Werlen (Spiel) und des Stabsadjutanten Philipp Rütsche (Tambouren). Beide sind praxiserprobt, haben die Central Band bereits an viele Tattoos geführt und wissen, wie es wann aussehen muss, dass es Erfolg verspricht.
Und stellten sich Übungserfolge ein?
Ja, schon bald wurden die Formationen sichtbarer. Videoaufnahmen halfen beim Einschätzen der eigenen Leistung. Die Stimmung in der Truppe war wirklich super, Korrekturen untereinander gaben Sicherheit. Es waren 70 Musikerinnen und Musiker, die das wirklich wollten.
Dann ging es ab nach Schottland?
Nach dieser Woche hatten wir noch drei Tage frei. Während Uniformen, Instrumente und sämtliches Material in einem Camion auf die Reise nach Grossbritannien gingen, übte ich daheim im Garten nochmals Spielen, Zählen und Laufen. Am 28. Juli flogen wir dann ab in Richtung Edinburgh – alle mit gültigem Pass und bestens vorbereitet.
Kamen die Signalhütchen auch mit?
Nein, einziger Orientierungspunkt auf der Esplanade war eine Linie im Asphalt. Tribünengeländer und Treppenaufgänge waren nun unsere Fixpunkte. Umso dankbarer waren wir für die drei Proben, die wir am Originalschauplatz zur Verfügung hatten. Das Finale, bei dem alle Formationen nochmals in die Arena kamen, wurde zweimal geprobt. Dabei steuerte ein einziger Dirigent in sehr zentraler Position das Geschehen.
Und lief beim Showblock der Swiss Armed Forces Central Band alles nach Plan?
Ja, unsere Formationen haben tatsächlich funktioniert. Herausfordernd war sicher der Umstand, dass das Orchester zum Teil ohne Blickkontakt zum Dirigenten unterwegs war, weil sich dessen Musiker, unter ihnen drei Frauen, in alle Richtungen bewegten. Während ich in den ersten Shows noch hoch konzentriert musizierend meine Schrittfolgen abarbeitete, wuchs der Genussfaktor von Einsatz zu Einsatz. Die Musik, die Pyrotechnik, den Beifall von den Tribünen und diese fast mystische Stimmung an diesem Ort – das alles konnte ich bei den letzten Auftritten aufsaugen.
Mussten Sie sich selbst um eine Unterkunft vor Ort kümmern?
Nein, es war alles minutiös vorbereitet. Wir wurden in einem Studentenwohnheim am Fusse des Arthur’s Seat, dem Hausberg von Edinburgh, einquartiert. Die Kantine versorgte uns bestens und pünktlich für den Showbeginn standen Busse parat, die uns und rund 700 weitere Musikanten von der Unterkunft zum Edinburgh Castle brachten. Die Organisation war wirklich verblüffend.
Inwiefern?
In vielerlei Hinsicht. Zum einen sei hier die beeindruckende Zuschauertribüne erwähnt, die so massiv an den alten Gemäuern zu kleben schien. Der Auf- und Abbau dieser imposanten Einrichtung nimmt beinahe ein halbes Jahr in Anspruch. Zum anderen erstaunte uns die Tatsache, dass im Castle und in der Arena, die als Sehenswürdigkeiten viele Touristen anziehen, auch während der Tattoo-Wochen tagsüber Besucher empfangen wurden. Um 18 Uhr wurden die letzten Besuchenden geordnet nach draussen geführt und dann alles für das allabendliche Spektakel vorbereitet. Ausserdem waren die Sicherheitsvorkehrungen immens, denn viele britische Streitkräfte sind in diesen Anlass involviert. So wurde zum Beispiel das Tragen der Militäruniformen in der Öffentlichkeit, also ausserhalb der Veranstaltung, nicht gestattet.
Wie viele Mitglieder zählt die Swiss Armed Forces Central Band?
Das Orchester umfasst rund 120 Musikerinnen und Musiker, von denen jeweils ein Teil im Einsatz steht.
Ist die Schweizer Militärmusik jedes Jahr am Royal Edinburgh Military Tattoo dabei?
Nein, zuletzt war das Schweizer Militär vor neun Jahren in Edinburgh vertreten. Die Tatsache, dass es doch ein ungewöhnliches, eher seltenes Erlebnis ist, sorgte in unserer Truppe dafür, dass alle – auch gestandene Damen und Herren – im Finale der letzten Show von den Emotionen vereinnahmt wurden. Einige unter uns waren das letzte Mal mit dem Orchester dabei, haben mit diesem Einsatz ihre Militärzeit beendet.
Was braucht es, um in die Swiss Armed Forces Central Band aufgenommen zu werden?
Zum einen muss man Mitglied der Schweizer Militärmusik sein. Ich habe nach bestandener Eintrittsprüfung meinen Militärdienst, also die Rekrutenschule (RS), in der Militärmusik absolviert. Nach der RS habe ich mich für die Aufnahmeprüfung des Repräsentationsorchesters angemeldet und dort ein weiteres Probespiel bestritten.
Wie lange haben Sie sich für diesen Einsatz in Schottland aufgehalten?
Wir waren einen Monat lang dort, haben 26 Shows gespielt. Die erste Woche nutzten wir noch für Proben vor Ort und um uns zurechtzufinden. Und dann spielten wir drei Wochen lang von Montag bis Donnerstag je eine Vorstellung, am Freitag und Samstag sogar zwei. Am Sonntag hatten wir jeweils frei. Unser Auftritt als Swiss Armed Forces Central Band dauerte jeweils acht Minuten. Dazu kam das grosse Finale, bei dem alle Mitwirkenden nochmals in die Arena kamen.
Hatten Sie Publikum aus dem Saanenland dabei?
Ja, und das hat mich sehr gefreut. Freunde und Familie, die Tickets erwischt hatten, konnten uns von den Rängen aus zujubeln und dazu das ganze beeindruckende Spektakel geniessen. Das Schweizer Publikum war fast an allen Shows gut vertreten. Jede beteiligte Musik- oder Tanzformation erhielt ein Kontingent an Tickets für die Vorpremiere.
Wenn man das alles so hört, ist es sehr ärgerlich, nicht dabei gewesen zu sein. Gibt es eine Möglichkeit, irgendwo eine Aufzeichnung davon zu sehen?
Auf Youtube lassen sich diverse Ausschnitte finden und zu einem späteren Zeitpunkt wird es auch im Fernsehen gezeigt.
ROYAL EDINBURGH MILITARY TATTOO
Auf der Esplanade – so der Name des Platzes vor dem Edinburgh Castle – marschieren, musizieren und tanzen jedes Jahr im August über 1000 Darbietende aus dem In- und Ausland. Die Rede ist vom legendären Royal Edinburgh Military Tattoo. Das Wort Tattoo bedeutet in der deutschen Übersetzung so viel wie «Zapfenstreich». Einst ausschliesslich der Militärmusik gewidmet, präsentieren sich heute auch Tanzgruppen und Musikformationen ohne militärischen Hintergrund im schottischen Edinburgh. Doch auch rund 70 Jahre nach der Erstausgabe 1950 bestreiten noch heute zahlreiche Angehörige der britischen Streitkräfte das Programm. Drei Wochen lang wird das anderthalbstündige Spektakel an jedem Tag, ausser sonntags, von rund 9000 Zuschauenden verfolgt. Die BBC überträgt diese Urveranstaltung der Militärmusik in über 50 Länder. 200’000 Zuschauer sahen die Show in den drei Wochen live. Zusätzlich verfolgten weltweit rund 100 Millionen Zuschauende die Übertragung des Spektakels. Das Besondere an diesem Anlass ist, dass die Einnahmen aus dem Ticketverkauf wohltätigen Organisationen zur Verfügung gestellt werden. JST
WER IST REMO VON SIEBENTHAL?
Remo von Siebenthal ist in Schönried aufgewachsen und nun in Rougemont daheim. Der 23-jährige Zimmermann macht seit vielen Jahren Musik. Seine Leidenschaft gilt der Es-Tuba. Mit diesem Instrument ist er Mitglied der Brass Band Berner Oberland. So ergab es sich, dass er seinen Militärdienst ebenfalls in musikalischer Richtung leisten konnte. Er absolvierte erfolgreich die Spielprüfung für Militärmusik und wurde zum festen Bestandteil der Swiss Armed Forces Central Band. Sie ist das Repräsentationsorchester der Schweizer Armee und umfasst 150 Musikerinnen und Musiker, von denen jeweils 75 während eines Auftrittes im Einsatz sind. Für Remo von Siebenthal waren die WK-Einsätze bisher musikalischer Natur. Und werden es auch zukünftig sein.
JST