Barrierefreie Ferien im Saanenland
03.04.2025 GesellschaftBarrierefrei reisen, behindertenfreundliche Unterkünfte, barrierefrei einkaufen, betreute Ferien für Menschen mit Beeinträchtigung – auch in der Ferienregion Gstaad gibt es zahlreiche diesbezügliche Angebote. PluSport zum Beispiel organisiert seit 20 Jahren ...
Barrierefrei reisen, behindertenfreundliche Unterkünfte, barrierefrei einkaufen, betreute Ferien für Menschen mit Beeinträchtigung – auch in der Ferienregion Gstaad gibt es zahlreiche diesbezügliche Angebote. PluSport zum Beispiel organisiert seit 20 Jahren Skilager im Saanenland. Wir waren im März einen halben Tag lang mit ihnen auf der Piste.
ANITA MOSER
Fragile Suisse erklärt Inklusion folgendermassen: Menschen mit Behinderung werden nicht nur in die Gesellschaft eingebunden, sondern die Umwelt wird auch ihren Bedürfnissen angepasst, indem zum Beispiel Schulen oder Arbeitgebende barrierefreie und zugängliche Angebote entwickeln. Aber nicht nur Schulen und Arbeitgebende sind diesbezüglich gefordert, sondern auch Feriendestinationen. Die Destination Gstaad hält zahlreiche Angebote bereit für Ferien für Menschen mit Beeinträchtigung (siehe Kasten «Angebote im Saanenland»).
Ein perfekter Skimorgen
Ich werde an diesem Mittwochmorgen Anfang März bei der Talstation Eggli bereits erwartet. «Bist du die Frau von der Zeitung? Kommen wir in der Zeitung?», begrüsst mich eine junge Frau mit einem strahlenden Lächeln. Kurz darauf schweben wir mit der Gondelbahn aufs Eggli. Die drei Dualskibobs, der Monoskibob sowie die Ski aller Teilnehmenden und Betreuenden verbleiben über Nacht jeweils bei der Bergstation. Heute ist der dritte Skitag des dritten und letzten Wintercamps von PluSport in diesem Winter in unserer Destination. Die Schneeverhältnisse sind geradezu perfekt, die Temperaturen angenehm, die Sonne strahlt mit den Schneesportbegeisterten um die Wette.
Nachdem alle noch das Gesicht mit Sonnenschutzmittel eingecremt haben und jene, die im Dualskibob sitzen, mit einer Wärmeflasche versorgt sind, kann es losgehen. Die 14 Teilnehmenden sind in verschiedene Gruppen eingeteilt: Die meisten fahren stehend, aber in unterschiedlichen Stärkeklassen. Der Teilnehmer mit Autismus spricht nicht, bleibt manchmal einfach stehen, und dann braucht es eine kurze Anweisung von Seiten der Betreuenden, ihn zum Weiterfahren zu bewegen.
Egal, welche Beeinträchtigung die Lagerteilnehmenden haben: Die Freude am Skifahren verbindet sie. Während man den einen die Freude ansieht oder sie auch hört, sind andere eher stille Geniesser.
Patrick liebt es schnell und kurvig
Der 35-jährige Patrick ist Rollstuhlfahrer und fährt Monoskibob. «Am liebsten schnell und kurvig», wie er lachend sagt. Er nimmt seit seinem 18. Lebensjahr an Camps von PluSport teil.
Ein «alter Hase» ist auch Gian. Der 27-jährige gebürtige Bündner – er leidet an einer Zerebralparese – ist seit 2014 regelmässiger Lagerteilnehmer. «Zu Beginn ist er noch stehend gefahren. Als er die Kraft nicht mehr aufbringen konnte, wechselten wir auf den Dualskibob», erzählt Lagerleiter Giusi Randazzo. Die beiden sind ein eingespieltes Team.
Während die anderen bereits Richtung Chalberhöni und Videmanette–Rougemont losfahren, kurven wir erst mal gemütlich zum Schopfenlift, später zum Standlift. Von den Angestellten an den Liften wird das Gespann jeweils herzlich begrüsst – man kennt sich. Das Einhängen an den Bügellift geht schnell, alle sind geübt darin.
Oberhalb der schwarzen Piste zum Chalberhöni bleiben wir stehen. Gian wirkt leicht unruhig. «Fahren wir hier runter?», will er wissen. «Schwarze Pisten hat er nicht so gern», weiss Randazzo. Gian atmet tief ein: «Gell, langsam», vertraut er auf seinen Begleiter. Ohne Probleme schaffen wir den steilen Hang und fahren bis zum Sessellift Pra Cluen.
Mit einem Handgriff wird der Dualskibob hochgestellt, mit vereinten Kräften – vom Betreuer und dem Liftangestellten – auf den Sessel gehievt und an der Rückenlehne eingerastet. Obwohl Gian das Prozedere gut kennt, wirkt er etwas angespannt.
Gian schwärmt von der Bergluft und der Natur
Auf der Bergfahrt entspannt sich der 27-Jährige wieder und kommt ins Schwärmen. Er möge am liebsten gute Pisten, ohne Buckel. «Und mir gefällt alles, ob Kurven oder geradeaus fahren», antwortet er auf meine Frage. «Aber was mir am meisten gefällt, sind die Natur, die frische Bergluft, einfach draussen zu sein.» Ich bin beeindruckt. «Bist du auch schon mal gestürzt?», will ich wissen. «Ja. Vor ein paar Jahren am Schopfenlift», erinnert sich Gian. «Aber das war harmlos», schiebt Giusi Randazzo lächelnd nach.
Die Pisten am Pra Cluen entsprechen genau Gians Gusto. Und Randazzo gibt nun auch ordentlich Gas, ich muss mich ranhalten, um nicht abgehängt zu werden. Gian strahlt und stösst auch schon mal einen lauten Jauchzer aus.
Am Nachmittag ins Hallenbad
Am Mittag treffen sich alle bestens gelaunt bei der Bergstation. Nach einem Gruppenfoto geht es mit der Gondelbahn hinunter ins Tal und – wer kann – zu Fuss zum Mittagessen ins Hotel Alphorn. «Am Mittwochnachmittag gehen wir jeweils ins Hallenbad. Wer nicht mitkommen will, verbringt den Nachmittag mit Spielen oder anderweitig», erklärt Giusi Randazzo. Ich verabschiede mich von der fröhlichen Gruppe. Es war ein perfekter Skimorgen mit Teilnehmenden mit Behinderung sowie Betreuenden, die mich allesamt sehr beeindruckt haben.
Seit 20 Jahren: PluSport-Camps im Saanenland
Giusi Randazzo und Gian kennen sich seit 16 Jahren. Gian besuchte vom Kindergarten bis zum Abschluss der obligatorischen Schule das Schulheim Rossfeld. Nun arbeitet er in einer Institution in Schönbühl. «Wir erledigen diverse Arbeiten für verschiedene Unternehmungen und auch fürs Militär», erklärt Gian. Mit Skifahren hat er schon zu Schulzeiten angefangen.
Randazzo hat als gelernter Zimmermann 30 Jahre auf dem Bau gearbeitet. Seit eineinhalb Jahren ist er im technischen Dienst im Spital Interlaken tätig. Er liebt den Schneesport und hat die Skilehrerausbildung absolviert. Durch einen Freund kam er anno 1996 mit PluSport in Berührung. «Zu Beginn war alles etwas rudimentär, steckte noch in den Kinderschuhen. Die Erfahrung fehlte uns damals, es gab noch keine spezifischen Ausbildungsmöglichkeiten», so Randazzo.
«Ein Freund, der damals im Swiss-Ski-Team war und mit den Paras im Nationalteam arbeitete, hat dann angefangen, Kinderlager zu organisieren.» Da hat es den Berner Oberländer gepackt.
Seit 2005 Lager im Saanenland
PluSport-Skilager im Saanenland gibt es seit 20 Jahren. Zu Beginn logierte man noch im speziell für Menschen mit Behinderung eingerichteten Hotel Solsana. Seit dessen Schliessung finden die drei Camps im Hotel Alphorn in Gstaad statt. «Res, ein Skiliftangestellter und Patrouilleur, hat uns damals auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht», erinnert sich Randazzo. Das Haus sei zwar nicht wirklich barrierefrei. «Aber es hat einen Lift und es ist etwas enger als in einem barrierefreien Haus, aber es ist machbar.»
Begleiter und Betreuer
In den Camps in Gstaad können jeweils 14 Erwachsene mit Beeinträchtigung teilnehmen. Sie werden von acht Leiterinnen und Leitern betreut. Als Leiter ist man nicht nur Begleiter beim Skifahren, sondern auch Betreuer. Und zwar Tag und Nacht. «Man hilft den Teilnehmenden, wo nötig: beim An- und Auskleiden, bei der Tagespflege, beim Essen usw.», erklärt Hauptleiter Giusi Randazzo. Der dreifache Familienvater ist nicht nur Schneesportlehrer, sondern auch Ausbildner. «Ich bilde Leiter:innen aus, nehme Prüfungen ab und mache Praxisbegleitung.»
Seine Leidenschaft für PluSport-Lager teilt auch seine 18-jährige Tochter Lina. Sie hat an diesem Mittwoch frei und ist extra für einen Besuch von Interlaken nach Gstaad gereist. Die Freude ist auf allen Seiten gross, man kennt sich. «Hoi Lina, fahrsch hüt mit mir?», wünscht sich denn auch der eine oder die andere Lagerteilnehmende.
Die junge Frau kennt keine Berührungsängste. «Sie ist damit aufgewachsen», erklärt ihr stolzer Vater. «Seit sie fünfjährig ist, habe ich sie mitgenommen.» Lina Randazzo absolviert bei der Spitex eine Ausbildung als Fachangestellte Gesundheit. Seit rund drei Jahren hilft sie im Februar als Leiterin mit. «Es kommt das Dreifache zurück», schwärmt sie, angesprochen auf ihr Engagement mit beeinträchtigten Menschen.
AUSBILDUNG BEI PLUSPORT
PluSport bietet die Ausbildungsrichtungen Polysport, Schwimmen, Schneesport sowie Reisen & Sportcamps an. Wer gerne Schneesport betreibt und sein Können an Menschen mit Behinderung weitergeben möchte, kann eine Ausbildung zum Behindertensportleiter:in Schneesport absolvieren. «In einem Grundkurs lernt man allgemeines über die verschiedenen Behinderungen», erklärt Randazzo. Auf den darauffolgenden Technikkurs folgt die Praxisausbildung – der Fahrkurs. «Den fünftägigen Praxiskurs absolvierte man meistens in einem Lager, in dem jemand teilnimmt, der Praxisbegleitung – in Betreuung und Skifahren – machen kann.» Am Schluss gibt es eine Beurteilung. Wer die Praxisbegleitung besteht, ist prüfungsreif. Die Prüfung dauert einen Tag. «Das gab es früher nicht. Wir haben alles selber entwickelt», erzählt Giusi Randazzo, der Lagerleiter aus Berufung und Freude.
Technik und etwas Kraft
Als Begleiter brauche man nicht zwingend eine Skilehrerausbildung, auch müsse man nicht auf einem sehr hohen Niveau Ski fahren können. Man müsse jedoch ein sicherer Skifahrer sein. «Du musst eine gewisse Voraussetzung mitbringen, du musst es im Griff haben und die notwendige Kraft, dies vor allem im Umgang mit dem Dualskibob», beschreibt es Giusi Randazzo. «Es ist Technik und etwas Kraft.»
PD/MOA
PluSport bietet traditionelle und trendige Sportarten in Clubs und Camps (Sommer und Winter) an und organisiert Sportevents jeder Art. https://www.plusport.ch
ANGEBOTE IM SAANENLAND
Die Ferienregion Gstaad setzt sich aktiv für Barrierefreiheit in der ganzen Region ein und laufend werden neue Angebote geschaffen und das Bestehende ergänzt. Zentral sind barrierefreie Unterkünfte. In den verschiedenen Dörfern der Region bieten zahlreiche Gastgeber rollstuhlgerechte Unterkünfte an. Für spezifische Informationen wird empfohlen, direkt mit entsprechenden Hotels Kontakt aufzunehmen.
Umfangreiches Sportangebot
Die Region bietet zudem ein grosses Angebot an Sportmöglichkeiten sommers wie winters an. Angefangen von asphaltierten oder festen Kieswegen mit einer Breite von mindestens 80cm, die für Rollstühle wie für Kinderwagen geeignet sind, über Schwimmen in den regionalen Schwimmbädern, Golf, Tennis bis zu Kutschenfahrten, Biken oder geführtes Reiten.
Wintersportarten wie Skifahren, Langlauf, Snowboarden, Schlittschuhlaufen, Indoor-Curling oder Schneeschuhwandern sind alleine oder mit speziell ausgebildeten Guides möglich.
OK:GO-Initiative
Die Ferienregion Gstaad macht mit bei der OK:GO-Initiative vom Schweizer Tourismusverband. Die Initiative unterstützt Schweizer Tourismusanbietende dabei, Informationen zur Zugänglichkeit ihrer Angebote zu erfassen und zu veröffentlichen. Aus dem Saanenland sind bisher knapp 100 Infrastrukturen dabei und machen ihre Zugänglichkeiten für alle auf der ginto-App sichtbar.
PD/MOA