Obacht: Benji und Ari wachen über ihre Herde
18.10.2022 Turbach...oder besser gesagt über ihre «Familie», denn für die zwei Lamas im Turbach steht der Schutz ihrer wolligen Freunde an erster Stelle. Dies ist auch ihre Aufgabe: Als Neuweltkameliden haben sie eine angeborene Abneigung gegenüber Hundeartigem, weshalb Alexandra Kropf und Sarah Jungen die zwei Hengste erstmals für den Herdenschutz eingesetzt haben.
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Wer mit Alexandra Kropf und Sarah Jungen spricht, der bemerkt auf Anhieb, dass ihnen ihre Tiere alles bedeuten. Der Umgang mit ihnen ist behutsam, die Erzählungen über gemeinsame Erlebnisse bringen sie zum Lachen. Und sprechen sie über Ari und Benji, platzen sie vor Stolz. Sie nennen sie liebevoll «unsere zwei Buben». Erst seit diesem Winter leben die zwei Lamawallache im Turbach, doch sie sind bereits ein fester Bestandteil der Herde und des kompletten Landwirtschaftsbetriebs. Und ihre Aufgabe ist bedeutsam, denn sie beschützen die Schafe des Biohofs Giferspitz.
Herdenschutz in den USA und Australien
Lamas haben laut Agridea, der landwirtschaftlichen Beratungszentrale der kantonalen Fachstellen, eine natürliche Abneigung gegenüber fremden Eindringlingen, insbesondere gegenüber hundeartigen Tieren. Sie werden deshalb seit den frühen 1980er-Jahren in den USA als Herdenschutztiere eingesetzt, heute auch in Australien. Sie beschützen ihre Schafsherden vor Kojoten, Dingos und streunenden Hunden, indem sie beissen, ausschlagen, schreien, spucken und wegdrücken. 2012 haben die Organisationen WWF Schweiz, CHWolf, Neuweltkameliden Schweiz und Agridea ein Pilotprojekt gestartet, welches die Schutzwirkung gegen einzelne Wölfe in der Schweiz erforschte. Das Fazit: In kleinen, homogenen Kleinviehherden, die auf einer übersichtlichen und eingezäunten Weide sind, lohnt sich der Einsatz von Lamas. «Lamas können allenfalls Schutz vor Luchsen, Wölfen, Füchsen und streunenden Hunden bieten. Bislang konnte ihre Schutzwirkung jedoch nicht statistisch bewiesen werden», so die Projektverantwortlichen.
Trotzdem stehen heute in der Schweiz vereinzelt Lamas an der Seite von schutzbedürftigen Schafherden, wie derjenigen im Turbach. «Wir wissen nicht, ob wir nur Glück hatten oder sich diese zwei Lamawallache wirklich gegen Raubtiere wehren mussten. Doch wir wissen, dass wir diesen Sommer kein Schaf an ein Raubtier verloren haben und wir sind überzeugt, dass ihre Präsenz wirksam ist», bilanziert Alexandra Kropf die diesjährige Sömmerung.
Ruhe im Stall
128 Schafe, darunter 50 eigene, befanden sich auf dem Sömmerungsgebiet Wasserngrat und Giferspitz, welches Kropf und Jungen bewirtschaften. Ein Gebiet, welches vom Luchs bewohnt wird. «Anfang des vergangenen Sommers wurde eine Wolfsichtung sehr nahe von unserer Sömmerung vom Wildhüter bestätigt. Wir selbst sind noch keinem Wolf begegnet», sagt Kropf. Bei einer gemeinsamen Begehung mit dem Herdenschutzverantwortlichen des Kantons Bern habe dieser empfohlen, sich über Herdenschutzlamas zu informieren. Weshalb? «Zum einen sind die Wartelisten für Herdenschutzhunde lang. Zum anderen liegt unser Sömmerungsgebiet in einer Wanderregion, was wiederum Konfliktpotenzial mit Herdenschutzhunden bietet», erläutert Jungen. Denn es ist bekannt, dass Herdenschutzhunde eine aggressive Haltung einnehmen können, besonders gegenüber anderen Hunden, die Wanderer bei sich haben.
Sie gelangten an Rolf Fedier, einen Lamazüchter aus dem Urner Bristen. Von ihm erhielten sie die zwei kastrierten Hengste Ari und Benji. «Sie haben sich enorm schnell integriert. Unsere Bündner Oberländer Schafe sind eigentlich von Natur aus ‹chlüpfig›. Doch seit wir die zwei Lamas haben, finden wir eine nie dagewesene Ruhe innerhalb der Herde, wenn wir in den Stall eintreten», schwärmt Sarah Jungen. Nach der Ankunft der Lamawallache folgte der Nachwuchs der Schafe: 27 Lämmer sind geboren. «Ari und Benji liessen sich nicht ärgern und die Lämmchen verehrten sie. Zeitweise rutschten sie wie eine Rutschbahn von den Rücken der Lamas hinunter, ein lustiger Anblick», erinnert sich Alexandra Kropf.
Als Wächter aufgezogen
Jeder zum Herdenschutz geeignete Wallach sei ein «Eins-A-Hengst», und das müsse er auch sein, gibt Rolf Fedier, langjähriger Lamazüchter aus Bristen, Auskunft. «Normalerweise wären dies ideale Zuchthengste, denn sie weisen genau die richtigen Charaktereigenschaften auf.» So müssten sie sehr aufmerksam und handzahm sein und sich am Halfter führen lassen. Die Erziehung beginne bereits im Jungtieralter und sei enorm wichtig. «Ihr Wesen ist anders als das eines Schafes. Sie sind stark, mächtig und gross. Ich will den Schafhaltern deshalb ein Tier übergeben, welches ihnen keine Probleme bereitet», so Fedier. Würden die Lamas artgerecht gehalten, hätten sie eine Lebenserwartung von 20 bis 25 Jahren.
Vergangenen Winter hat er bei vier Betrieben jeweils zwei Lamas integriert. Der Zeitpunkt ist so gewählt, dass die Lamas ihre Herde gut kennen und im Sommer bereit sind, diese zu beschützen. Seit rund sieben Jahren züchtet und zieht er Herdenschutzlamas auf. Welche Erfahrungen haben die Schafhalter bisher gemacht, die eines seiner Lamas aufgenommen haben? «Bisher hat sich keiner betreffend einem Riss bei mir gemeldet», so Fedier.
Faszination Lama
Nichtsdestotrotz: Rolf Fedier ist begeistert von dieser Tierart. «Mich fasziniert, dass es möglich ist, ein derart grosses und stolzes Tier, dessen Wesen dem eines Wildtieres ähnlich ist, handzahm erzogen werden kann.» Und von der Intelligenz wolle er gar nicht erst anfangen. «Ein Lama vergisst nie! Es erinnert sich an alles, was es einmal gelernt hat, auch wenn es zehn Jahre her ist», so der Züchter, der seine Passion gefunden zu haben scheint. «Wenn ich ein Lama sehe, geht mir das Herz auf.»
Fedier hat Kropf und Jungen mit der Begeisterung angesteckt, denn auch sie sind vom Wesen der Tiere eingenommen. «Sie umgibt eine positive Energie», sagt Alexandra Kropf. «Die Lamas sind sehr aufmerksam, neugierig und bemerken jede Veränderung in der Herde. Das gibt uns Vertrauen. Wir stecken so viel Zeit, Geduld und Liebe in unsere Schafherde, da wollen wir sie auch in Sicherheit wissen», fügt Sarah Jungen an. Jedes Mal, wenn sie sich auf dem Weg zum Sömmerungsgebiet befänden, würden die Gedanken kreisen: Geht es unseren Schafen wohl gut? Oder hat der Luchs oder vielleicht der Wolf zugeschlagen? «Seitdem Ari und Benji über unsere Herde wachen, sind wir ein wenig entspannter. Auch wenn die Furcht, gerissene Schafe anzutreffen, nie vergeht», so Jungen.
Mehr Informationen gibt es unter www.bristenlama.ch und www.chwolf.org/woelfe-in-derschweiz/herdenschutz/herdenschutz-mit-lamas-und-alpakas.