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30.08.2024 KolumneIm Sommer 1965 sassen etwa 25 Studenten im Hauptsitz der Nestlé SA in Vevey. Der Konzern hatte junge Leute gesucht, die in den Ferien einer Arbeit nachgehen und dabei Geld verdienen wollten. Sofort hatte ich mich gemeldet, denn gefragt waren weniger begabte Schüler oder Studenten mit ...
Im Sommer 1965 sassen etwa 25 Studenten im Hauptsitz der Nestlé SA in Vevey. Der Konzern hatte junge Leute gesucht, die in den Ferien einer Arbeit nachgehen und dabei Geld verdienen wollten. Sofort hatte ich mich gemeldet, denn gefragt waren weniger begabte Schüler oder Studenten mit gutem Schulzeugnis, sondern solche, die mindestens 18 Jahre alt waren und bereits einen Führerausweis A (Personenwagen) besassen. Jetzt aber – zu Beginn des dreitägigen Einführungskurses – sassen wir nicht in irgendeinem Sitzungszimmer, sondern wir nahmen ganz hinten im grossen Filmsaal Platz – also eigentlich im Kino. «Das ist ja hier wie im Fip-Fop-Klub …», flüsterte mir mein Sitznachbar zu. Genau. Denn damals war die Firma Nestlé SA in Vevey im ganzen Land und selbst bei den Primarschülerinnen und -schülern vor allem deshalb ein Begriff, weil die begnadeten Nestlé-Werbeleute schon die Schülerinnen und Schüler ab der dritten Klasse als Clubmitglieder des Fip-Fop-Clubs ins Kino lockten, wo sie sich – ohne Eltern – insbesondere Micky-Maus-Filme ansehen durften.
Aber in Vevey betrachteten wir nun nicht Walt-Disney-Produktionen, sondern einen Film zum Thema Nestlé World Wide. Fast überall auf der Welt war Nestlé mit seinen Produkten präsent und versüsste oder bereicherte sonstwie die Gesundheit und das Leben aller Menschen.
Nach dem Film wurden wir durch einen Direktor offiziell begrüsst und im globalen Unternehmen willkommen geheissen. Und am Vormittag des dritten Einführungstages bekam jeder einen Autoschlüssel und einen neuwertigen Ford-Taunus-Lieferwagen. Gefüllt mit etwa 20 Kilogramm Nestlé-, Peter-, Cailler- und Kohler-Schöggeli. Dazu lag auf dem Beifahrersitz noch eine Mappe mit 200 Bestellformularen samt ein paar Kugelschreibern.
Worauf wir dann souverän und etwas eingebildet zwei Monate lang von einem Lebensmittelladen zum nächsten Kiosk und weiter zu den Bäckereien und Konsumfilialen fuhren, um Bestellungen für Cailler-, Frigor-, Peter- und Kohler-Schokoladen zu notieren und den Verkäuferinnen dabei mit einem Lächeln ein paar Schöggeli zu überreichen.
Nur wenige Jahre später wäre unser Stolz gegenüber der Arbeitgeberin Nestlé zerronnen wie eine Frigorschoggi auf der Kochplatte. Denn die Berner Arbeitsgruppe Dritte Welt behauptete in einer Broschüre: «Nestlé tötet Babys!» Zu diesem Schluss kam die AG3W in einer Broschüre über die «Ursachen und Folgen der Verbreitung künstlicher Säuglingsnahrung in der Dritten Welt». Der Nahrungsmittelkonzern geriet darob fast weltweit in grosse Bedrängnis.
Und siehe da: Noch letzte Woche konnte man in Paris in der wichtigsten französischen Tageszeitung «Le Monde» unter dem Titel «Nestlé Waters – ein dorniges Dossier für die Direktion» die rhetorische Frage lesen: «Sind natürliche Mineralwasser – wie die Nestlé-Marken Vittel, Perrier, San Pellegrino, Contrex, Henniez – die nach einer Verunreinigung durch Bakterien, insbesondere Fäkalien, gereinigt wurden, noch natürliche Mineralwasser?» Wohl kaum. Denn bereits seit den Neunzigerjahren sollen die Nestlé-Mineralwasser mit Fäkalien, Kolibakterien, Pestiziden sowie per- und polyfluorierten Chemikalien verunreinigt worden sein. Letztere führen zu Leberschäden, Schilddrüsenerkrankungen, Fettleibigkeit, Fruchtbarkeitsstörungen und Krebs. Die französische NGO Foodwatch sagt dazu: «Was wir essen, entscheiden nicht wir selbst.» Und sie kritisiert nicht allein Nestlé: «Europas Politik und Wirtschaftsweise trägt zum Hunger in anderen Teilen der Erde bei. Auch in hochentwickelten Ländern können sich die Menschen eine ausgewogene Ernährung gar nicht leisten.»
Die NZZ sieht nur noch eine radikale Lösung: «Nestlé würde sich wahrscheinlich einen Gefallen tun, wenn es sich ganz aus dem Wassergeschäft zurückziehen würde. Der Konzern hätte ein Imageproblem weniger.»
OSWALD SIGG
JOURNALIST, EHEMALIGER BUNDESRATSSPRECHER [email protected]