«Kuhlness» in Gstaad
02.09.2024 GstaadDer Samstag in Gstaad stand ganz im Zeichen der Kuh. Sieben Zügleten entzückten an der 9. Gstaad Züglete die in grosser Zahl erschienen Besuchenden. Das Ziel, Einheimische mit Gästen zusammenzubringen, ist auf jeden Fall gelungen. Der traditionelle Anlass wurde mit vielen ...
Der Samstag in Gstaad stand ganz im Zeichen der Kuh. Sieben Zügleten entzückten an der 9. Gstaad Züglete die in grosser Zahl erschienen Besuchenden. Das Ziel, Einheimische mit Gästen zusammenzubringen, ist auf jeden Fall gelungen. Der traditionelle Anlass wurde mit vielen Ständen des einheimischen Gewerbes und Darbietungen von sechs Musikformationen umrahmt. Die Gstaad Züglete war ein im wahrsten Sinne des Wortes «kuhler» Anlass.
Traditionell, echt und authentisch
Die neunte Gstaad Züglete hatte dank vielen geschmückten Kühen, zahlreichen Zuschauenden und bestem Wetter Volksfestcharakter. Dahinter stehen eine bis ins letzte Detail durchdachte, minutiöse Planung, Herzblut und viele helfende Hände.
KEREM S. MAURER
Liebevoll geschmückte Kühe schlendern gemütlich, begleitet von Bäuerinnen in Trachten und Landwirten in «Mälchröck», durch die belebte Gstaader Promenade. Edelweisshemden wohin man blickt, und gefühlt auf jedem Platz verleiht eine volkstümliche Musikformation der Gstaad Züglete den passenden musikalischen Rahmen. Über all dem schweben die Stimmen von Léonie Müller und Willi Bach, den Speakern, die den Anwesenden mehrsprachig und humorvoll erklären, welche Musikformation gerade zu hören ist oder welche Familie ihre Tiere jetzt durchs Dorf führt. Zum neunten Mal schon ziehen die Landwirte mit ihren Kühen und Geissen im Rahmen ihres Alpabzugs durch Gstaad und immer mehr Zuschauende aus nah und fern erfreuen sich an der traditionell gelebten Swissness in einem echten Schweizer Voralpendorf. Die Gstaad Züglete ist längst weit über die Kantons- und die Landesgrenzen hinaus bekannt, ja sogar auf dem New Yorker Times Square prangte vor knapp einem Jahr das Bild einer mit Blumen geschmückten Kuh zwischen schmucken Gstaader Chalets.
Die Logistik hinter der Musik
Nadja Widmer, Gastgeberin im Posthotel Rössli Gstaad, sitzt seit zehn Jahren als eine der zwei Vertreterinnen des Hoteliervereins Gstaad-Saanenland im OK der Gstaad Züglete. Neben dem Streichelzoo, der ihr eine lieb gewonnene Tradition geworden ist, zeichnet sie für das Wohlergehen der Musikformationen am Tag der Züglete verantwortlich. «Heuer waren sechs Musikformationen und sieben Züglete dabei», sagt sie und erzählt von der anspruchsvollen Aufgabe, die Musikformationen zur richtigen Zeit an die richtigen Orte zu dirigieren, dass sie dann dort spielen, wann und wo sie müssen, und wie es im Musikprogramm steht. Da die sechs Formationen an sechs oder sieben unterschiedlichen Standorten auftreten und zwischendurch in den Restaurants der Promenade verpflegt werden, ist das kein zu unterschätzender logistischer Aufwand. Verschiedene Institutionen unterstützen den Anlass. Zahlreiche Restaurantbetriebe helfen mit, die Musikformationen, Helfende und Zügler:innen zu verpflegen, erzählt Nadja Widmer und ergänzt: «Beispielsweise werden gesponserte Bratwürste auf die Restaurants verteilt, in denen die Musiker einkehren dürfen. Ihre Mahlzeiten sollten auf einen bestimmten Zeitpunkt fertig sein, weil sie danach wieder plangemäss auftreten. So können auch die Restaurants besser planen.»
Guides lotsen die Auswärtigen
Ein Blick auf die Musikformationen zeigt, dass drei von ihnen nicht aus dem Saanenland stammen. Wie wissen denn diese, wo «Bellevue/Le Petit Chalet», «Apple Pie Square» oder «Rialto/Kapälli» ist? Das wüssten die kaum, sagt Nadja Widmer lachend und erklärt, dass sie jeweils für jede ortsunkundige Musikformation einen Führer organisiert, der sich auskennt und die Musiker:innen fristgerecht an die vorgesehenen Spielorte oder in das entsprechende Restaurant führt. «Auf die Guides muss ich mich zu hundert Prozent verlassen können, da darf absolut nichts schief laufen», betont Nadja Widmer. Schliesslich musizieren die Formationen zeitlich aufeinander abgestimmt und ausser Hörweite der anderen Chöre. Und da gibt es noch etwas ganz Wichtiges: Während des Konzerts, das im Rahmen des Gstaad Menuhin Festivals in der Kapelle stattfindet, dürfen auf der Promenade weder Küche mit ihren Glocken herumlaufen noch eine Musikkapelle aufspielen, um das Konzert nicht zu stören.
Jeder kann, niemand muss
Und dann gibt es noch diese süssen Kinder in Edelweisshemdchen und Trachtenröckchen, die den zahlreich Anwesenden die begehrten «Züglete-Pins» verkaufen. «Der Erlös dieser Pins kommt in den Topf, aus dem die Ausgaben der Gstaad Züglete beglichen werden», erklärt Nadja Widmer. «Die Kinder melden sich freiwillig und viele kommen jedes Jahr, um die Pins zu verkaufen», ergänzt sie schmunzelnd. Die Musikformationen machten jeweils einer der grösseren Beträge aus, die es zu begleichen gelte, weiss Widmer und sie betont, dass die Gstaad Züglete ein Nonprofitevent sei, der ausschliesslich von Spenden, Sponsorenbeiträgen, den Erlösen aus dem Pinverkauf und dem Parkplatz finanziert werde.
Die vier Säulen, auf denen der Anlass ruhe – der Hotelierverein Gstaad-Saanenland, die Landwirtschaftliche Vereinigung Saanenland, der Gewerbeverein Saanenland und die Dorforganisation Gstaad –, stellten die Plattform zur Verfügung und organisierten den Markt, die Zügleten und die Musik, sagt Nadja Widmer. «Alle anderen Geschäfte dürfen sich nach ihrem Gutdünken mit einem Beitrag an dem Gelingen des Anlasses beteiligen. Jeder kann, niemand muss.» Man müsse nicht einmal einen Pin kaufen, es sei schliesslich keine Fasnacht, sondern ein traditioneller Anlass – der, wenn man es genau nehmen will, nicht erst seit zehn Jahren stattfinde. «Schon viel früher waren die Bauern während ihres Alpabzugs durch die Dörfer gewandert», erklärt die Gastgeberin des Posthotels. So gesehen ist die Gstaad Züglete lediglich eine Wiederbelebung eines alten Brauchs. Authentisch, traditionell und ungekünstelt.
In die weite Welt
Dass die Gstaad-Züglete offenbar einen Nerv der Zeit trifft, zeigt der enorme Besucherandrang am letzten Samstag in der Promenade. Das Publikum war begeistert, die Bauernfamilien ebenso – und vielleicht sogar die Kühe. Manch eine von ihnen trug den Kopf in stolzer Haltung und präsentierte ihren Schmuck, als wüsste sie, dass sie von allen Seiten bewundert wird. Unzählige Handyfotos und -videos wurden von dem malerischen Schauspiel geschossen, viele Bilder von der neunten Gstaad Züglete gehen um die Welt und vielleicht bleibt ja wieder eines am Times Square in New York hängen oder schafft es nach gar Asien.
Fünf Fragen an Johann von Grünigen, den «geistigen Vater» der Gstaad Züglete
INTERVIEW: KEREM S. MAURER
Johann von Grünigen, warum werden Sie als geistiger Vater der Gstaad Züglete bezeichnet und was halten Sie davon?
Seit 30 Jahren fahre ich Kutsche in Gstaad und überlegte schon lange, was man machen könnte, um die Einheimischen wieder ins Dorf zu holen. Mein Herz schlägt für das Glockengeläut, für die Treicheln und die Kühe. So bin ich auf die Idee gekommen, diese Gstaad Züglete zu inszenieren. Die Dorforganisation hat mir geholfen, die Idee umzusetzen, und heute haben wir ein starkes, gut eingespieltes OK. Darauf bin ich ein Stück weit stolz.
Sie sind von Beginn weg jedes Jahr selbst mitgelaufen und habe Ihre aufwendig geschmückten Kühe durch Gstaad geführt?
Richtig, auch während der Coronazeit. Mein Vater hatte früher schon alle Jahre die Tiere durchs Dorf geführt, weil unser Weg von der Alp auf die Vorschess, die in Saanen liegt, durch Gstaad führt.
Wenn Sie sagen, Ihr Vater habe die Kühe schon durch Gstaad gezügelt, dann gibt es die Gstaad Züglete schon länger als zehn Jahre?
Das ist im Grunde eine sehr alte Tradition, die wir wieder aufleben liessen. Es ist unsere Alpkultur, die langsam verloren geht und die man vermehrt pflegen sollte. Durch die Gstaad Züglete gibt es viele junge Leute, die den Wert dieser Tradition wieder zu schätzen lernen und den Sinn dahinter verstehen, dass die Tiere von der Alp hinunter laufen. Das ist die Natur – früher hatte man auch keine Lastwagen, um die Tiere herumzufahren. Für mich hat das Ganze auch einen ökologischen Aspekt: müsste ich meine 40 Kühe mit Lastwagen transportieren, bräuchte ich deren drei. Laufen ist für die Tiere kein Problem. Wir züchten robuste Simmentaler Kühe mit Hörnern, die ertragen das gut.
Viele Tiere hatten heute quasi die Zunge am Boden. War es nicht zu heiss für die Kühe?
Temperaturmässig war es heute eher an der oberen Grenze, aber die Kühe sind es sich gewohnt, draussen zu sein. Meine älteste Kuh, die heute dabei war, ist vierzehnjährig, sie lief vorne weg und gab das Tempo an. Es hatte auch hochträchtige Tiere darunter, für die war es natürlich anspruchsvoller. Für Kühe, die nicht mehr laufen konnten, haben wir Fahrgelegenheiten organisiert. So weit ich weiss, wurde nur eine Kuh aufgeladen, die heute oder morgen kalbt und nicht mehr laufen wollte. Für alle anderen war die Züglete machbar. Wir achten sehr darauf, dass es den Kühen gut geht.
Wenn ich richtig informiert bin, sind Sie heute zum ersten Mal nicht mehr selbst mitgelaufen. Wie hat sich dieser für Sie historische Moment angefühlt?
Es war ein sehr emotionaler Moment, ich hatte Tränen in den Augen, als meine Kühe mit meiner Familie vorbeigezogen sind. Ich habe mir das zusammen mit meiner Frau angeschaut. Seit vier Jahren unterhalte ich mit meinem ältesten Sohn eine Generationengemeinschaft, ich werde mich langsam zurückziehen. Es macht mich sehr stolz zu sehen, dass mein Sohn Freude an dieser Tradition hat und sie weiterführt. Und auch, dass wir als Eltern es geschafft haben, Traditionen vorzuleben und den Kindern das Gefühl zu vermitteln, dass solche Traditionen wichtig sind. Ich hatte heute Tränen des Abschieds, aber auch Tränen der Freude in den Augen.