Im Saanenland aufgewachsen und jetzt…
27.01.2023 SerieDas Saanenland war und ist geprägt von Zu- und Wegzügen. Die Leserinnen und Leser des «Anzeigers von Saanen» sind nicht nur im Saanenland zu finden, sondern in der Schweiz und im Ausland – ja, in der ganzen Welt. Diese «Auswanderer» will «Im ...
Das Saanenland war und ist geprägt von Zu- und Wegzügen. Die Leserinnen und Leser des «Anzeigers von Saanen» sind nicht nur im Saanenland zu finden, sondern in der Schweiz und im Ausland – ja, in der ganzen Welt. Diese «Auswanderer» will «Im Saanenland aufgewachsen und jetzt …» vorstellen.
Der Grund bei Gstaad sei seine eigenartige, nostalgische Heimat, sagt Marc Trunz. Dort habe er seine Kindheit und Jugend verbracht. 2003 sei er mit seiner Frau und seinen Kindern aus den USA in den Grund zurückgekehrt: «Ich war erstaunt, wie er, wie Gstaad und das Saanenland sich verändert hatten. Die Schürli sind weg, was ich schade finde. Nichts ist mehr so, wie ich es in Erinnerung habe.» Dafür hat er gestaunt, dass alte Freundinnen und Freunde sich noch so gut an ihn erinnern konnten. «Gute Freunde aus Feutersoey und dem Grund haben mich sogar schon besucht. Eine weite Reise.»
Auch sein Leben sei eine lange Reise, sagt Marc Trunz, der 1962 im Spital Saanen auf die Welt kam als Sohn von Rosmarie und Hartwig Trunz, dem Uhrmacher. «Es war bequem, von der Lehrerwohnung die Treppe hinunter ins Schulzimmer zu gelangen. Schwieriger war es, bei der Mutter in die Schule zu gehen. Auch die Rolle als Lehrersohn war belastend. Im Ebnit an der Sekundarschule war es dann einfacher in der Rolle als Schüler bei Frau Kesselring und den Herren Grossen, Würsten, Schicker und Hurni, der uns schon damals voraussagte, dass die Welt einer Überbevölkerung entgegen geht.»
Bern und die grässlichen Haarschnitte
Die nächste Station von Marcs Lebensreise war Bern, wo er im Altenberg unten an der Aare wohnte, sich zuerst mit Handlangerarbeiten durchschlug und dann eine Lehre als Maskenbildner am Stadttheater anfing: «Während sechs Monaten machte ich nicht viel anderes als Perücken, was ein riesiger ‹Chrampf› war.» Während der Lehre im Stadttheater musste er Haareschneiden lernen, was den Kunden grässliche Haarschnitte bescherte, wie er selber sagt. Dann kam der Sylvesterabend von 1981, Marc war im Grund und seine Eltern feierten den Übergang zum neuen Jahr mit einem Fest. Dazu eingeladen war auch das Ehepaar Michelle und Donald Dick aus Palm Beach in Florida. Am nächsten Morgen kam sein Vater in sein Zimmer und fragte, ob er in die USA wolle. Marc antwortete: «Klar, ich will.»
Florida und die unpassenden Flüche
Zwei Wochen später sass er im Flugzeug mit der Absicht, mit dem Sohn des Ehepaars ein Jahr lang zusammenzuarbeiten. Bei der Einreise in New York musste Marc auf die eine Seite und Don auf die andere. Nach einer langen Durchsuchung, in der er ausgefragt wurde und sich ausziehen musste, verpasste er trotz der Hilfe einer Flight-Attendant den Anschlussflug nach Florida, fand aber Don am nächsten Morgen wieder beim Frühstück im Hotel. Angekommen in Florida, habe er sich gefragt, warum er überhaupt hier sei, was er hier solle mit seinen kümmerlichen Englischkenntnissen: «Alles war anders als in der Schweiz. Englisch habe ich aber schnell gelernt. Nach zwei Monaten konnte ich mich verständigen und nach sechs war ich zweisprachig deutschenglisch. Nur mit dem richtigen Register habe er Mühe gehabt: «Die grobe Sprache und die Flüche, die ich auf der Arbeit von einem Sohn der Arbeiterklasse lernte, vertrugen sich schlecht mit der Sprache der gehobenen Gesellschaft, in der Michelle und Don verkehrten. Auch musste ich meine Kleidung der jeweiligen Umgebung anpassen, was mir jedoch nicht gelang.»
Der amerikanische Führerschein und die nette Expertin
Immerhin habe er auch seinen Führerschein in Florida gemacht: «Beim Ausfüllen des Theoriebogens hat mir die Expertin geholfen und bei der praktischen Fahrprüfung – einmal rechtsherum um den Block – habe ich alles falsch gemacht. Auch diese Expertin hat mit mir Mitleid gehabt und nach der Prüfung gesagt: Well, you just passed.» Den Geburtsort Saanen habe sie, weil er so schwierig zu schreiben war, in New York geändert. Aber es gefiel ihm nicht in Florida und er beschloss, nach Neuseeland auszuwandern.
On the Road und die Greyhound-Busse
Dazu musste er den Kontinent von Ost nach West, von Florida nach San Francisco durchqueren. Als erfahrener Interrailer und weil es billiger war, als zu fliegen, wählte er für die Reise Greyhound-Busse, was ziemlich anstrengend war und er kam deshalb krank an der Westküste an. Dort arbeitete er für drei Dollar fünfzig auf einer Deponie und verschob die Neuseelandreise, er machte dafür mit seinem Bruder und seiner Schwester ein Treffen in New York City ab. Nach den Strapazen der Greyhound-Reise flog er dorthin, wo er in kurzer Zeit viele Leute kennen lernte.
New York und die Fotografie
Die Stadt beeindruckte ihn durch das enorme kulturelle und künstlerische Angebot, die vielen Kunstschulen und dass er im Restaurant auf «Züritüütsch» angesprochen wurde: «Um Geld zu verdienen, bin ich 1982 zurück in die Schweiz gezogen. Im gleichen Jahr habe ich dann ein Zimmer in einem Loft in Chelsea gemietet und noch mehr Leute kennengelernt und war an der School of Visual Arts und bei Fotograf Ted Corner angestellt. Bei ihm habe ich während acht Jahren viel gelernt. So viel, dass ich nach drei Jahren bei Ted ein eigenes Geschäft eröffnen und teilweise selbstständig arbeiten konnte.» Die sozialen Unterschiede hätten ihn gestört, sagt er, und er habe sich sehr zum Missfallen seiner Loft-Mitbewohner für randständige Menschen engagiert.
Oregon und «thank God, I’m a country boy»
Ein Umstand störte aber die Harmonie, denn Marc hielt sich illegal in den USA auf, was niemandem auffiel, denn die meisten seiner Bekannten dachten, er stamme aus Brooklyn. Behörden sind manchmal langsam, aber irgendwann sollte er aus dem Land gewiesen werden. Um dem zu entgehen, heiratete Marc die gute Freundin Julie, zog mit ihr zusammen und aus der Zweckheirat wurde eine wirkliche Beziehung. Als Julie Heimweh nach ihrem Heimatstaat Oregon und ihren Eltern an der Westküste verspürte, willigte Marc als ehemaliger Grunder «country boy» sofort ein, nach Portland zu ziehen: «Oregon hat alles – Küste, Wälder und Schnee.» In drei Tagen lernte er dort alle Freunde kennen, die ihn die nächsten 24 Jahre begleiten sollten und er fand auch sofort Arbeit als Roadie, in einem Plattenverlag, als Fotograf und wenn es zu wenig davon gab, arbeitete er als Maler und renovierte Häuser.
Portland und «a match made in heaven»
Trotz oder gerade wegen der Geburt des Sohnes Mathias brach die Ehe mit Julie auseinander, die ihren Babyblues nicht loswurde. Marc blieb nicht lange allein und zog mit JulieRae und seinem Sohn in ein Haus in Portland ein: «A match made in heaven,» sagt er, «JulieRae hatte einen eigenen Job und war viel zu gut für mich.» Ein Autounfall warf ihn aber dann aus der Bahn und er musste sich an einer Erwachsenen-Universität zum «home inspector» umschulen lassen. Keine Fotoarbeiten mehr, keine Umbauten, dafür ein eigenes Geschäft, das immer grösser wurde: «Ich habe auch Leute angelernt, 19 Lehrlinge. Dabei konnte ich von meinen Erfahrungen in Bern profitieren.»
Kalifornien und die Sonne von San Diego
2003 kam Tochter Eva auf die Welt und das idyllische, gute Leben inklusive Skifahren in Oregon konnte weitergehen. Leider begann Portland sich zu verändern: «Ich erkannte den Ort nicht mehr. Die Gesellschaft veränderte sich hin zum Schlechten. Mein bester Freund wurde obdachlos. All dies machte mir zusammen mit dem trüben Wetter zu schaffen und wir wollten an die Sonne. Mathias wollte sofort weg und die anderen Familienmitglieder konnten sich auf Kalifornien einigen. Auf in den Süden, zur Sonne hin und nach San Diego.»
Der Zugewanderte und seine Heimat
Im Alter von 50 Jahren versuchte Marc 2014 einen Neubeginn, verliess ein Geschäft mit zwei Angestellten und sein 30-Fuss-Segelschiff auf dem Columbia River. Vier Jahre lang pendelt er zuerst jede Woche, dann einmal im Monat zwischen San Diego und Portland hin und her. In Kalifornien baut er ein zweites «home inspection business» und ein Beratungsunternehmen auf, das Kunden in Immobiliengeschäften berät, «damit diese nicht übers Ohr gehauen werden». San Diego sei zur Heimat geworden: «Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich nicht als Zugewanderter, als ‹Zuehagschlingeta›. Die Leute hier sind offen, fröhlich und gut gelaunt. Die Bevölkerung ist stark durchmischt – viel mehr Multikulturalität geht kaum noch, alle Völker der Erde sind vertreten. Es hat viele Immigranten, welche das Gleiche wie ich erlebt haben. Es ist dazu nicht weit bis zur mexikanischen Grenze und Tijuana. Ich fühle mich hier sehr wohl.»
Die Lebensreise und das Glück
Marc sagt von sich selbst, dass er auf seiner Lebensreise viel Glück hatte. Das kann sein. Aber vielleicht hat ihn das Glück auch gefunden, weil er so ist, wie er ist: Offen für Neues, kontakt- und entscheidungsfreudig und immer bereit, das Glas als halb voll zu sehen, statt als halb leer.
THOMAS RAAFLAUB