«Ihr habt es verdient, bestraft zu werden!» Über die Geissel des Antisemitismus
25.04.2025 KircheIn der Geschichte waren die Juden immer eine Minderheit. Sie haben nie ein Weltreich besessen wie die Perser, die Römer oder die Briten; auch heute muss niemand fürchten, von den Juden überrannt oder erobert zu werden. Und trotzdem gibt es kein Volk, das über Jahrtausende ...
In der Geschichte waren die Juden immer eine Minderheit. Sie haben nie ein Weltreich besessen wie die Perser, die Römer oder die Briten; auch heute muss niemand fürchten, von den Juden überrannt oder erobert zu werden. Und trotzdem gibt es kein Volk, das über Jahrtausende hinweg so gehasst wurde; Millionen von Antisemiten wünschten und wünschen, das jüdische Volk auszulöschen. Warum ist das so?
Was ist Antisemitismus?
Antisemitismus ist ein Versuch, die Welt zu erklären. Diese Haltung macht «den Juden» verantwortlich für die Übel der Welt, verbreitet Gerüchte und bedient sich verschiedener Zuschreibungen. Es heisst, «die Juden» seien illoyal gegenüber dem Staat oder der Nation, sie würden die bürgerliche Moral untergraben, nach Macht und Einfluss streben, die Handelswege kontrollieren, die Banken- und Finanzwelt bestimmen.
Wie äussert sich Antisemitismus?
Antisemitismus hat viele Gesichter. Er zeigt sich in Beleidigungen, Beschimpfungen und gewalttätigen Übergriffen, er zeigt sich in der Schändung von Gräbern oder der gezielten Beschädigung jüdischen Besitzes. Die Leugnung oder Relativierung des Holocausts ist ebenso Ausdruck einer antisemitischen Haltung wie die Praxis, im Blick auf den Staat Israel und die übrigen Akteure des Nahostkonfliktes mit zweierlei Mass zu messen oder jenem jegliches Existenzrecht abzusprechen («from the river to the sea»). Eine besonders üble Form des Antisemitismus besteht meines Erachtens in dem Versuch, die Rolle von Tätern und Opfern umzukehren und, zum Beispiel, die Juden für Terrorangriffe auf ihr Land verantwortlich zu machen.
Wo gibt es Antisemitismus?
Antisemitische Haltungen finden sich zu allen Zeiten und an allen Orten:
• Bereits im Neuen Testament und in der Alten Kirche machen Christen Stimmung gegen die jüdische Gemeinde mit dem Verweis auf deren angebliche Schuld an der Kreuzigung Jesu. Diese christliche Form des Antisemitismus, sie ist eine der ältesten überhaupt, nennen wir «Antijudaismus».
• Zur Zeit der Aufklärung werden Erzählungen über eine vermeintliche, verborgene Weltherrschaft der Juden salonfähig; Voltaire, zum Beispiel, wendet sich an die Juden und schreibt: «Ihr übertrefft sämtliche Nationen mit eurem schlechten Benehmen und eurer Barbarei. Ihr habt es verdient, bestraft zu werden.» Dieser schäumende Antisemitismus, im Zeitalter der Aufklärung keineswegs selten, bereitet den Boden für die Nationalsozialisten und deren millionenfaches Morden. Die Judenfeindlichkeit kommt freilich auch von links: Karl Marx verfasst eine antisemitische Schrift (Hannah Arendt, die jüdische Philosophin, nennt sie ein «klassisches Werk des linken Antisemitismus») und Josef Stalin plant die Deportation aller Juden.
• Im Koran finden sich sowohl projüdische Aussagen wie auch Verse, welche die Juden als Feinde darstellen und als «Affen» oder «Schweine» bezeichnen. Dieser abwertende Blick ist bis heute ein Kennzeichen muslimischen Antisemitismus. Dieser spricht dem Staat Israel das Existenzrecht ab und macht «die Juden» verantwortlich für die eigene, vielerorts desolate Situation. Durch die Migration nach Europa erfährt diese Form der Judenfeindlichkeit enormen Zuwachs.
• Antisemitische Haltungen sind auch in linken und rechten Gruppen anzutreffen: Die identitätspolitische Linke, sie ist im Kultur- und Universitätsbetrieb weit verbreitet, offenbart, dass sie über keinerlei Kenntnisse der Geschichte des Nahen Ostens verfügt, denn sie sieht im Staat Israel ein «weisses Kolonialprojekt» und verbrüdert sich in verstörender Weise mit Terrororganisationen; rechte Kreise verbreiten Verschwörungstheorien oder relativieren die Verbrechen der Nationalsozialisten.
Die Rolle der UNO
Die Vereinten Nationen missbrauchen seit Jahren ihre Erklärungen für antiisraelische Propaganda. Die Zahl der Resolutionen gegen Israel übersteigt jene gegen China, Nordkorea, Syrien, Russland, den Iran, Saudi-Arabien und Terrororganisationen wie die Hamas. Die UNO stellt das Land regelmässig an den Pranger und misst, unterstützt von vielen Medien, mit zweierlei Mass. Ich halte diese Praxis für abwegig, denn Israel ist der einzige demokratische Rechtsstaat im Nahen Osten.
Ein Territorialkonflikt?
Die aktuelle Diskussion über eine Neu-Aufteilung der jüdischen und palästinensischen Gebiete («Zwei-Staaten-Lösung») greift meines Erachtens zu kurz. Denn sie lässt ausser Acht, dass der Judenhass schon vor der Staatsgründung Israels wütete und wohl auch dann weiterbestünde, wenn der ganze Nahe Osten in arabischer Hand wäre. Sein Ziel ist die Auslöschung aller Juden, daran würde auch ein palästinensischer Staat nichts ändern.
Ist es Neid?
Warum gibt es Antisemitismus? Ist es Neid? Ein überdurchschnittlich hoher Bildungsgrad und der kulturelle Erfolg lassen solches vermuten; der Autor H.G. Wells schreibt 1936: «Der Jude rafft sich Eigentum, der Nicht-Jude wird um seine Chancen betrogen.»
Ich halte die Neidtheorie für verkehrt, denn sie bedient antisemitische Klischees: Nicht «jeder Jude» ist erfolgreich und nicht «jeder Nicht-Jude» wird betrogen, und wenn, dann wohl auch von seinesgleichen! Die Gründe müssen anderswo liegen.
Nein, ein Ärgernis!
Im Jahr 2010, zum 65. Gedenktag der Befreiung des Konzentrationslagers von Auschwitz, sagt Benedikt XVI: «Im Tiefsten wollte man mit dem Zerstören Israels, mit dem Austilgen dieses Volkes den Gott töten, der am Sinai gesprochen und dort die bleibend gültige Norm des Menschseins aufgerichtet hat. Wenn dieses Volk einfach durch sein Dasein Zeugnis von dem Gott ist, der zum Menschen gesprochen hat und ihn in Verantwortung nimmt, so sollte dieser Gott endlich tot sein und die Herrschaft nur noch dem Menschen gehören.»
Ich halte diesen Gedanken des früheren Papstes für interessant: Das Judentum ist ein Zeugnis wider den menschlichen Wunsch, das Leben gänzlich alleine in die Hand zu nehmen. Es ist ein Ärgernis, denn es erinnert daran, dass das Leben ein Geschenk ist, es warnt vor Selbstoptimierung und Selbsterlösung und weiss um die heilsame Begrenzung menschlicher Existenz. Wer die Juden vernichtet, will dieses Ärgernis auslöschen und sich eigenen Allmachtsphantasien hingeben.
Die Freunde der Freiheit
Die Schriften des Judentums – u.a. die Zehn Gebote, die Erzählungen über Versklavung und Befreiung – gehören zu den Grundlagen des Christentums und der westlichen Zivilisation. Diese ist, bei allen Schwächen, die beste aller möglichen Welten; sie ermöglicht ein Leben in Freiheit und Würde, sie garantiert Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit.
Antisemiten jedoch bedrohen diese Errungenschaften: Teile der Linken und Islamisten betrachten den Staat Israel und den Westen als rassistisch-imperialistisches Krebsgeschwür, das auszutilgen ist; neofaschistische Gruppierungen, von der vermeintlichen Überlegenheit der eigenen Rasse berauscht, erkennen in der westlichen Welt einen Ort der Dekadenz und fordern eine Nation der Starken und der Reinen. Der Antisemitismus wird zur Gefahr für die freie Welt. Zuletzt stehen sich deshalb nicht Freunde und Feinde des Judentums gegenüber, sondern Freunde und Feinde der Freiheit.
BRUNO BADER