Ein Treffen, das nachhallt: Oswald Sigg und seine alarmierenden Prognosen
31.12.2024 SerieJOCELYNE PAGE
In diesem Jahr hatte ich die Gelegenheit, Oswald Sigg kennenzulernen – Autor, Kolumnist, ehemaliger Vizekanzler und Bundesratssprecher. Sein fundiertes Wissen über das demokratische System beeindruckte mich zutiefst. Doch seine scharfen Analysen und ...
JOCELYNE PAGE
In diesem Jahr hatte ich die Gelegenheit, Oswald Sigg kennenzulernen – Autor, Kolumnist, ehemaliger Vizekanzler und Bundesratssprecher. Sein fundiertes Wissen über das demokratische System beeindruckte mich zutiefst. Doch seine scharfen Analysen und Prognosen weckten nicht nur Bewunderung, sondern auch Ängste und Bedenken. Gleichzeitig bestärkten sie mich in meiner Überzeugung, dass meine Arbeit relevant ist: Informieren ist wichtiger denn je. Wissen ist und bleibt Macht.
Fünf bis sechs Millionen Franken – so viel kostet es heute, eine Volksinitiative auf nationaler Ebene ins Rollen zu bringen. Das ist zwanzigmal mehr als vor vier Jahrzehnten. Erstaunliche Zahlen, finden Sie nicht auch?
Oswald Sigg – Autor, Kolumnist und ehemaliger Vizekanzler sowie Bundesratssprecher – hat sich bereits seit seiner Jugend mit Volksinitiativen auseinandergesetzt. Sogar seine Doktorarbeit widmete er diesem Thema. Derzeit arbeitet er an einem neuen Buch, in dem er die Kommerzialisierung der Demokratie analysiert. Seine klare Meinung dazu: «Die Volksinitiative ist der wichtigste Bestandteil der direkten Demokratie», betonte er im Interview, das ich vergangenen Mai mit ihm führen durfte. Mit Stolz hob er die einzigartige Leistung der Schweiz hervor. Denn wir sind das einzige Land, das dieses wertvolle politische Instrument tatsächlich nutzt. Wir gestalten unsere Zukunft gemeinsam, stimmen über Altersvorsorgen, Umweltschutz, Energiethemen und Gesundheitsbelange ab. Natürlich gibt es auch ungewöhnliche Vorlagen, wie etwa die Hornkuh-Initiative 2018. In den internationalen Medien sorgten wir für Aufsehen. Aber mal ehrlich: Welches andere Land kann von sich behaupten, dass das gesamte Volk über Kuhhörner auf nationaler Ebene debattiert? Und dabei kann jede und jeder mitreden. Ist das nicht unglaublich? Wenn man dann an all die Länder denkt, in denen totalitäre Regime mit Unterdrückung und Gewalt die Rechte der Menschen mit Füssen treten, wird einem bewusst, welch selbstbestimmtes Leben wir führen dürfen.
Und dann kommt das ernüchternde Resümee von Oswald Sigg: «It is all about the money.» Vielleicht gleite ich gerade ins Englische ab, weil mich dieses Fazit an die Vereinigten Staaten erinnert. Dort schmiedet der wiedergewählte US-Präsident Donald Trump gemeinsam mit Elon Musk, dem reichsten Menschen der Welt, Pläne, die Spekulationen schüren – und die mir ehrlich gesagt Angst machen.
Aber zurück in die Schweiz: Selbst in der Politik, die eigentlich neutral sein sollte und deren demokratisches System auf der Gleichberechtigung aller Stimmen beruht, ist es nicht möglich, sich vom Einfluss des Geldes zu lösen. «Die Reichen, die ihr Vermögen lieber in die direkte Demokratie als in Aktien investieren, haben in der politischen Schweiz bessere Chancen, etwas zu bewegen», fasste Oswald Sigg unsere gegenwärtige Situation im Gespräch zusammen.
Da bleibt nur zu hoffen, dass unter den Wohlhabenden auch grosse Philanthropen sind. Denn wer kümmert sich um die Anliegen der gewöhnlichen Bürgerinnen und Bürger? Um jene mit Beeinträchtigungen, mit finanziellen Sorgen oder im Kampf für mehr Rechte für alle?
Es frustriert mich, dass in der Schweiz so viel Geld nötig ist, um sich für Anliegen einzusetzen, die unsere Gesellschaft gestalten sollen. Dabei träume ich von einer freien, offenen und toleranten Gemeinschaft. Einer Gesellschaft, die Gewalt, Rassismus, Sexismus, Diskriminierung und Ungerechtigkeiten entschieden ablehnt. Vielleicht wird mein Traum wahr und es formiert sich innerhalb der Politik eine Mehrheit, die den revolutionären und zukunftsweisenden Vorschlag von Oswald Sigg unterstützt: Das Geld muss aus der Politik verbannt werden. Oder muss ich realistischer sein und einfach im Lotto gewinnen, um selbst mitreden zu können?
Seis drum: Mein persönliches Highlight in diesem Jahr war das Gespräch mit Oswald Sigg. Eine Begegnung mit einem Menschen, der sein Wissen und seine Recherchen in den Dienst der Bürgerinnen und Bürger stellt – all jener, die vor dem Gesetz eigentlich gleich sein sollten. Seine Belesenheit und sein klarer Blick auf die Realität haben mich tief beeindruckt, seine bedachten Aussagen vollends überzeugt.
Er hat mich in meinem Beruf bestärkt, selbst in dunklen Momenten, wenn dem Journalismus wieder einmal eine frostige Front entgegenweht. Es ist wichtig, Personen wie Oswald Sigg zu interviewen, damit die Leserinnen und Leser erfahren, was in der Welt – oder in diesem Fall in Bundesbern – vor sich geht. Und vielleicht auch, was dort schiefläuft.
Das ganze Jahr über sind wir Journalistinnen und Journalisten mit Leidenschaft im Einsatz, um jede Woche zwei Zeitungen zu gestalten, die nicht nur über Relevantes und Wichtiges informieren, sondern auch Geschichten enthalten, die fesseln und manchmal zum Schmunzeln anregen. In unserer Serie «Mein persönliches Highlight 2024» teilen wir die Geschichten, die uns tief berührt, zum Lachen gebracht, zum Grübeln angeregt oder einfach begeistert haben – Momente, die uns nicht losgelassen haben.