Ein aussergewöhnliches Konzert
04.07.2025 KonzertAm 22. Juni fand in der bolivianischen Stadt Cochabamba ein Konzert des Orquesta Filarmónica de Bolivia statt. Es spielte unter der Leitung des international anerkannten deutschen Dirigenten und Cellisten Leonard Elschenbroich und interpretierte, unter anderen Stücken, meisterhaft die ...
Am 22. Juni fand in der bolivianischen Stadt Cochabamba ein Konzert des Orquesta Filarmónica de Bolivia statt. Es spielte unter der Leitung des international anerkannten deutschen Dirigenten und Cellisten Leonard Elschenbroich und interpretierte, unter anderen Stücken, meisterhaft die siebte Sinfonie von Beethoven und das Cellokonzert Nr. 1 von Camille Saint-Saëns. Ursprünglich hätte das Konzert in Sucre, der Hauptstadt Boliviens, in Anwesenheit des Staatspräsidenten Luis Arce zur Feier des 200-jährigen Bestehens der Republik stattfinden sollen. Wegen der heftigen Unruhen und Blockaden, die seit Wochen im Land herrschen und mehrere Todesopfer gefordert haben, musste das Konzert jedoch nach Cochabamba verlegt werden. Aus diesem eigentlich traurigen Grund kamen meine Frau Guisela und ich mit weiteren mehreren 100 Zuhörenden gratis in den Genuss dieses auf äusserst hohem Niveau stehenden Konzertes, ganz ohne den Staatspräsidenten, der sich mittlerweile in La Paz verschanzt hat.
Leonard Elschenbroich wurde in Frankfurt am Main geboren und erhielt schon früh ein Stipendium an der Yehudi Menuhin School in London. Er machte international Karriere und trat als Solist häufig in weltberühmten Orchestern auf. Während einer Tournee durch Lateinamerika hörte er eine Gruppe von jungen bolivianischen Musikern spielen. Er war «positiv erschrocken» über die «Energie, Leidenschaft, den Ehrgeiz und das Brennen für die Musik», wie er es ausdrückte. «Ich wusste von dem Moment an, dass diese Musiker Unterstützung verdient hatten und dass ich vorerst dafür verantwortlich sein müsste.» 2013 gründete er konsequenterweise zusammen mit dem bolivianischen Dirigenten Miguel Angel Salazar das Orquesta Filarmónica de Bolivia und kommt seither sporadisch nach Bolivien, um aufzutreten und sich der Bildung junger Musiker:innen zu widmen. Da er selbst von der Yehudi Menuhin School unterstützt worden war, weiss er natürlich um die Wichtigkeit der Förderung von künstlerischem Nachwuchs, weshalb er gemeinsam mit Salazar die Stiftung Bravura auf die Beine stellte. Zwar ist bei noch so viel Engagement und Einsatz mit diesem Orchester sicher kein Weltruhm zu erlangen, aber es ist überraschend, was sie mit diesen fast 50 Musikern, grösstenteils Amateur:innen, erreicht haben.
Ich habe übrigens selbst in Gstaad zwischen 1986 und 1987, bevor ich nach Bolivien auswanderte, im alten Haus hinter der Apotheke Birnstiel, in dem regelmässig Studenten der «Menuhin-Schulen» untergebracht waren, gewohnt. Ich war da zwar nicht als Musikstudent, sondern als «Schriftstellerlehrling», wo ich meine ersten ernsthaften Texte schrieb. Den ganzen Tag über hörte man Tonleitern, die auf verschiedenen Instrumenten gespielt wurden. Mich hat das nicht gestört. Ganz im Gegenteil: Ich fand es unglaublich anregend, den Musikfragmenten zuzuhören und währenddessen zu schreiben. Um sie besser hören zu können, öffnete ich sogar das Fenster, denn die meisten Studenten wiederum übten sowohl im Sommer als auch im Winter bei offenem Fenster. Diese wunderbare Künstlerwohngemeinschaft hörte leider mit dem Tod von Annemarie Birnstiel, die die Seele des Ganzen war, auf zu existieren.
Da die Yehudi Menuhin School, die Menuhin Academy und die Camerata Lysy – alle von Yehudi Menuhin gegründet oder mitgegründet – eng miteinander verbandelt waren und gemeinsam Aktivitäten ausführten, ist es gut möglich, dass auch Elschenbroich einige Zeit in Gstaad verbracht hat – und wäre er etwas älter gewesen, hätte ich ihn vielleicht sogar kennengelernt und üben gehört. Tatsache ist, dass er nach eigenen Angaben schon am Gstaad Menuhin Festival aufgetreten ist.
Es ist jedenfalls tröstlich zu wissen, dass kulturelle Arbeit selbst unter widrigsten Umständen, wenn sozusagen die Welt ringsherum zusammenbricht, möglich ist und sie es schafft, ein grosses Publikum mit der Landeshymne, die das Orchester am Schluss dieses aussergewöhnlichen Konzerts in Cochabamba spielte, zu Tränen zu rühren. Ebenfalls tröstlich ist zu wissen, wie klein die Welt doch ist, wenn man es nur bemerkt und die Augen offenhält. Wie sagte schon Meister Menuhin treffend: «Jeder Augenblick im Leben ist ein neuer Aufbruch, ein Ende und ein Anfang, ein Zusammenlaufen und Auseinandergehen der Fäden.»
STEFAN GURTNER
Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, IBAN: CH20 0900 0000 1701 6727 4.. www.tres-soles.de