Die Liebe führte ihn ins Saanenland
27.11.2025 SerieGstaad und das Saanenland üben seit Generationen eine besondere Anziehungskraft auf Menschen aus aller Welt aus. Manche verbringen nur eine Zeit hier, andere finden im Tal eine neue Heimat. Dass hier mehr Menschen aus dem Ausland leben als im Schweizer Durchschnitt, ...
Gstaad und das Saanenland üben seit Generationen eine besondere Anziehungskraft auf Menschen aus aller Welt aus. Manche verbringen nur eine Zeit hier, andere finden im Tal eine neue Heimat. Dass hier mehr Menschen aus dem Ausland leben als im Schweizer Durchschnitt, gehört längst zum Charakter der Region. Wer bleibt, bringt mehr mit als einen neuen Akzent: Geschichten, Traditionen, Sichtweisen – und die Bereitschaft, an einem neuen Ort Wurzeln zu schlagen. In unserer Serie «Neue Heimat Saanenland» porträtieren wir Menschen, die hier ein Zuhause gefunden haben. Wir erzählen, was sie hierhergeführt hat, wie sie sich eingelebt haben und wie sie das hiesige gesellschaftliche Leben bereichern.
Irfan Agusi hat als junger Mann seine nordmazedonische Heimat verlassen. Er erzählt, was ihn damals zu diesem Schritt bewogen hat, was ihn heute in der Schweiz hält und warum er irgendwann vielleicht wieder für ein paar Jahre in die alte Heimat zurück möchte.
KEREM S. MAURER
Diese Geschichte beginnt im Jahr 2002 in einem Ort, der rund 1800 Strassenkilometer weit entfernt ist. Damals lernte der Nordmazedonier Irfan Agusi in Skopje eine Landsmännin kennen, die in Zweisimmen arbeitete. «Ich habe mich sofort in sie verliebt!», erzählt er mit einem Lächeln im Gesicht. Er sitzt entspannt auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer, im Hintergrund läuft ein TV-Gerät und vor ihm auf dem Tisch steht ein kleiner Laptop. Der Nordmazedonier erzählt von früher, von «schönen Dingen, die er in seinem Leben nie mehr vergisst»: in Skopjes Altstadt flanieren, sich mit Freunden in einem Café treffen, durch die nordmazedonische Bergwelt streifen. Er habe nach dem Gymnasium ein Semester Journalismus studiert, ein Theologiestudium begonnen und für die nordmazedonische Tageszeitung «Fakti» gearbeitet, erinnert er sich. Sein Ding waren kritische Artikel über Korruption und die herrschende Klasse, was ihm Probleme mit dem Establishment eingebracht habe. Zudem spuckte er dem zweithöchsten Polizisten der Stadt – journalistisch korrekt, wie er betont – in die Suppe. Dies alles blieb nicht ohne Folgen. «Drohanrufe haben mich bewogen, das Land für einige Zeit zu verlassen», sagt er.
Wohnen, wo andere Ferien machen
Im Jahr 2004 haben Irfan Agusi und seine Freundin beschlossen, zu heiraten. «Ich habe zu ihr gesagt: Wenn das Visum kommt, bevor wir heiraten, gehen wir in die Schweiz. Kommt es danach, bleiben wir in Nordmazedonien», sagt er. Zwei Monate vor der Hochzeit lag das Visum vor, also reisten sie ins Obersimmental. Von Zweisimmen zogen Agusis 2017 nach Saanen. Beide arbeiteten Vollzeit, die Kinder gingen zur Schule. «In Gstaad wohnten wir näher bei den Schulen, was vieles vereinfachte», erklärt er. Zudem sei es schön, da zu wohnen, wo andere Ferien machten. Als Journalist arbeitete er nur noch sporadisch für «Albinfo», dem Newsportal der albanisch sprechenden Bevölkerung. Oft über Themen, welche die albanische Diaspora betreffen und über Menschen aus seiner Heimat, welche es in der Schweiz «zu etwas» gebracht haben. Stolz zeigt er ein Lifestyle-Magazin mit dem Namen «Fiala». Dieses habe er mit einem Kollegen zusammen im Jahr 2014 gegründet. Drei Ausgaben hätten sie herausgebracht, dann sei ihnen das Geld ausgegangen. Aber: «Die Idee ist von ‹Albinfo› aufgegriffen und bis heute weitergeführt worden. Mein Magazin gibt es heute noch, obschon ich damit nichts mehr zu tun habe», sagt er nicht ohne Stolz.
Vom Handlanger zum Facilitymanager/Polier
In der Schweiz hat Irfan Agusi angefangen, als Bauhandlanger zu arbeiten. Er erzählt, wie er sich nach oben gearbeitet hat. Deutschunterricht, Weiterbildungen, grosser Einsatz. Heute organisiert er als Facilitymanager/Polier bei der Firma Bauwerk AG eine Mitarbeitergruppe von bis zu 15 Arbeitern – derzeit auf der Baustelle im Parkhotel Gstaad. Sieben Etagen, viele Zimmer. «Ich koordiniere unsere Mitarbeiter und die Zusammenarbeit mit anderen Firmen», sagt er. Agusi spricht mazedonisch, albanisch, deutsch, englisch und italienisch. Deutsch werde auf dem Bau nur selten gesprochen. Er lacht. Einmal hätte ihn ein Vorarbeiter aufgefordert, eine «Schufle» zu holen. Ihm war damals nicht klar, dass dieser damit eine Schaufel meinte. So hat Irfan Agusi gemerkt, dass das, was er im Deutschkurs lernte, nicht dieselbe Sprache war, die sein Vorgesetzter sprach. Heute kann er sich sehr gut in Deutsch verständigen. Lachend winkt er ab: «Meine Töchter finden mein Sprachniveau ungenügend!»
Sicherheit als grosses Plus
Irfan Agusi trifft sich regelmässig mit Menschen aus der alten Heimat. Früher hätten sie ihre Muttersprache gepflegt. Doch dies habe sich mit der Generation, die in der Schweiz geboren wurde, verändert. Heute sprächen sie in ihrem Verein ein Gemisch aus Mazedonisch, Kosovarisch, Albanisch und Deutsch. Dieses Sprachgemisch sei gewissermassen ein Spiegel emigrierter Seelen im Wandel der Zeit. Irfan Agusi zeigt auf die Bücherregale in seinem Wohnzimmer. Er liest viel und gern, hauptsächlich auf Albanisch. Die Romane von Umberto Ecco oder die Geschichten von Ohar Pamuk haben es ihm angetan. Daneben macht er das, was im Saanenland Einheimische und Gäste gleichermassen tun: Ski fahren, wandern und biken. Doch das ist nicht alles, was er am Saanenland mag. «In erster Linie mag ich die Sicherheit in all ihren Aspekten», sagt er und ergänzt, dass ihm das multikulturelle Bevölkerungsgemisch im Saanenland sehr gefalle. «Die Einheimischen sind sich an Touristen und Saisonangestellte gewöhnt. Die Leute hier sind freundlich und die Landschaft ist wunderschön. Es gibt viel, was uns im Saanenland hält.»
Heimweh im Wandel
«Früher hatte ich oft Heimweh», gesteht er, sein Blick schweift aus dem Fenster, bleibt irgendwo im blauen Herbsthimmel hängen. Treffe man Menschen aus der Heimat, lindere dies den Schmerz, sagt er leise, und: «Wenn das Heimweh ganz schlimm wird, sitze ich ins Auto und fahre nach Hause. In nur zwanzig Stunden bin ich da.» Dabei spielt die slowenische Hauptstadt Ljubljana, die auf halber Strecke liegt, eine wichtige Rolle. «Früher freute ich mich dort, weil ich bald zu Hause war. Und auf dem Rückweg war es schlimm, weil ich gerne länger geblieben wäre», sagt er. Doch auch das habe sich mit der Zeit verändert. Wenn er heute auf der Rückreise sei, werde ihm bei Ljubljana das Herz leicht, weil er wisse, was ihn in der neuen Heimat erwarte. Wenn man ihn fragt: Schweiz oder Nordmazedonien? Dann sagt er, es sei wie ein Paar Handschuhe im Winter: «Ich brauche beide, damit es mir gut geht.»
Irfan Agusi ist überzeugt, dass seine Kinder hier eine bessere Zukunft haben als in Nordmazedonien. Doch ihm ist bewusst, dass sie dereinst selbst entscheiden werden, was sie tun und wo sie leben wollen. Und er und seine Frau? Wollen sie irgendwann einmal wieder zurück, vielleicht nach Skopje, wo alles angefangen hat? «Niemand bleibt für immer in der Schweiz oder irgendwo auf diesem Planeten», antwortet er philosophisch. «Ich denke, ich werde irgendwann für ein paar Jahre meines Lebens nach Mazedonien zurückkehren.»



