Der Mainachtsbaum
14.12.2025 LeserbeitragAlle Jahre wieder. Herzliche Einladung zum Bad Buchstadter Weihnachtsmarkt!
Georg Krämer stöhnt. Noch zehn Plakate muss er aufhängen in der kleinen Kurstadt. Wenn es nach ihm ginge, könnte Weihnachten dieses Jahr ausfallen. Es läuft nicht gut bei ihm. Sein Job im städtischen Bauhof ist beschwerlich und sein Chef, Bürgermeister Federer, geht ihm gewaltig auf die Nerven. Ständig verlangt er mehr von ihm und kommt mit irgendwelchen unsinnigen Neuerungen daher, anstatt ihn in Ruhe arbeiten zu lassen. Dieser Federer hat nur seine Karriere im Kopf und keine Ahnung von wirklicher Arbeit.
Auch daheim ist es nicht mehr wie früher. Da ist – im Gegensatz zur Arbeit – eher zu viel Ruhe. Seine Frau Anita unternimmt mehr mit ihren Freundinnen als mit ihm. Die Kinder studieren in entfernten Grossstädten und kommen nur selten heim. Alles in allem keine weihnachtliche Stimmung bei Georg.
Über diesen Gedanken sind nun alle Plakate angebracht. Jetzt noch die letzte Aufgabe für heute. Er soll den Weihnachtsbaum auf dem Marktplatz aufstellen. Wieder mal allein, weil sein Kollege kurzfristig ausfällt. Georg macht sich auf den Weg in die Lagerhalle. Da steht er, der Weihnachtsbaum. Klein, aber gut gewachsen und schlank. Direkt daneben der Maibaum von diesem Jahr. Noch schön geschmückt mit Bändern und Wappen. Georg gerät ins Träumen.
Vor gefühlt sehr langer Zeit hat er seiner Frau mit einem solchen Maibaum den Heiratsantrag gemacht. Sie war und ist immer noch seine grosse Liebe, das schönste und klügste Mädchen in der Stadt. Es gab damals viele junge Männer, die sie gerne gehabt hätten. Aber sie hat sich für ihn entschieden. Nun, er hatte ihr schliesslich auch den schönsten Maibaum vors Haus gestellt. Ein Lächeln breitet sich auf seinen Lippen aus und der graue Wintertag wird plötzlich etwas heller.
Jetzt aber ran an die Arbeit. Im Nu ist der Baum auf dem Wagen und nach einer Stunde steht er auf dem Marktplatz. Das Schmücken ist nicht seine Aufgabe. Er hat jetzt Feierabend.
Als Georg am nächsten Morgen zur Arbeit kommt, herrscht helle Aufregung. Bürgermeister Federer höchstpersönlich erwartet ihn: «Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen?» Georg weicht einen Schritt zurück. Was will der Federer jetzt wieder von ihm? Der packt ihn und zieht ihn mit sich auf den Marktplatz.
Und da steht nicht – wie es eigentlich sein sollte – der Weihnachtsbaum, sondern der MAIBAUM! Georg ist starr vor Schreck. Er stottert: «Das wollte ich nicht, ich war wohl in Gedanken, tut mir leid.»
Der Weihnachtsmarkt soll am Nachmittag eröffnet werden, und es bleibt keine Zeit mehr, den Fehler zu korrigieren. Der Bürgermeister ist nicht mehr zu halten: «Gehen Sie mir aus den Augen. Sie sind fristlos entlassen.»
In diesem Augenblick kommen die Kinder des Naturkindergartens mit ihrer Erzieherin Marianne, einer guten Freundin von Georgs Frau, über den Marktplatz. Ihre Aufgabe wäre es gewesen, den Weihnachtsbaum zu schmücken. Aber nun steht ja ein Maibaum hier. Georg würde am liebsten im Boden versinken und steht stumm erstarrt da.
Die Kinder jedoch fangen eines nach dem anderen an zu lachen. Sie tanzen miteinander um den Maibaum und singen: «Oh Mainachtsbaum, oh Mainachtsbaum». Erst denkt Georg, sie machen sich lustig über ihn. Doch Marianne packt den mitgebrachten Weihnachtsschmuck aus und die Kinder fangen an, den Maibaum damit zu schmücken. Sie freuen sich an den bunten Kugeln, den Girlanden und Lichtern, die nun den Maibaum zum Funkeln bringen.
Am meisten freut sich der kleine Samuel, der Sohn des Bürgermeisters. Er ruft: «Papa, Papa, findest Du unseren Mainachtsbaum auch so toll?» Der Bürgermeister sieht nicht so aus, als teile er die Meinung seines Sohnes, scheint aber angesichts der Kinderfreude ein wenig besänftigt.
Georg will sich mit hängendem Kopf davonschleichen. Nichts wie weg hier. Was soll jetzt bloss aus ihm werden? Mit seinen 59 Jahren wird er sicher nach diesem Vorfall keinen neuen Job mehr finden.
Da hört er, wie jemand seinen Namen ruft. Es ist die Leiterin des Tourismus-Büros, Frau Herb, die angelockt von dem fröhlichen Treiben auf dem Marktplatz aus dem Rathaus kommt. «Warum wollen Sie denn schon gehen, Herr Krämer? Was für eine super Idee mit dem Mainachtsbaum! Schauen Sie, es kommen immer mehr Leute. Bleiben Sie doch hier!»
Tatsächlich. Der Marktplatz füllt sich nun ganz schnell mit Einheimischen und Kurgästen. Die Nachricht vom Mainachtsbaum hat sich in Windeseile im Städtchen herumgesprochen. Die Ochsenwirtin und die Betreiberin des Marktcafés bringen Punsch und Weihnachtsgebäck. Ein paar Mitglieder der Stadtkapelle holen ihre Instrumente hervor und bald herrscht rund um den Mainachtsbaum eine wunderbare weihnachtliche Stimmung.
Georg ist trotzdem zum Weinen zumute. Wie konnte ihm ein solcher Fehler passieren? Da sieht er, wie Frau Herb voller Begeisterung auf den Bürgermeister zugeht. «Also Herr Federer, das ist eine geniale Marketing-Idee! Ein Alleinstellungsmerkmal! Unser Bad Buchstadter Weihnachtsmarkt mit seinem einzigartigen Mainachtsbaum. Wir werden die Presse informieren und so viele Besucher wie noch nie haben! Herr Krämer muss unbedingt eine Prämie bekommen für seine Idee!»
Applaus brandet auf und Georg wird zum Mainachtsbaum geführt. Dem Bürgermeister bleibt nun nichts anderes übrig, als Georg die Hand zu reichen. «Na gut, Herr Krämer, da habe ich wohl vorhin ein wenig überreagiert. Ihre Idee war vielleicht doch nicht so schlecht.» Und mit einem Blick zu Frau Herb: «Das mit der Prämie werde ich mir noch überlegen.»
Georg fällt ein riesiger Stein vom Herzen. Beinahe kommen ihm die Tränen, aber diesmal vor Erleichterung. In dem Moment kommt seine Frau Anita auf ihn zu und umarmt ihn. «Marianne hat mich gerade angerufen und mir alles erzählt. So ein wunderbarer Mainachtsbaum. Er erinnert mich sehr an den Maibaum, mit dem Du mir damals Deinen Heiratsantrag gemacht hast.» Und dann flüstert sie ihm noch leise ins Ohr: «Ich habe dich sehr lieb, Du Erfinder des Bad Buchstadter Mainachtsbaums!»

