Das soziale Medium X
29.11.2024 KolumneIn diesen Tagen ist wohl zunächst ein Blick in die amerikanische Welt angebracht. Denn letzthin war in den beiden Berner Zeitungen «Bund» und «BZ» auf Seite 1 eine Schlagzeile zu lesen, die einem geradezu Angst einjagte. Wenn man, ob der erneuten Wahl von Donald Trump zum ...
In diesen Tagen ist wohl zunächst ein Blick in die amerikanische Welt angebracht. Denn letzthin war in den beiden Berner Zeitungen «Bund» und «BZ» auf Seite 1 eine Schlagzeile zu lesen, die einem geradezu Angst einjagte. Wenn man, ob der erneuten Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika am 5. November 2024 verunsichert sei und Anzeichen einer Krankheit verspüre, so könnte es sich dabei möglicherweise um Depressionen handeln. Solche seien gar nicht harmlos, man müsse sie ernst nehmen und allenfalls zum Arzt gehen. Die Kosten der Behandlung würden von der Krankenkasse übernommen.
In der Tat: Die weltweit verbreitete Nachricht von der Wahl Donald Trumps – eines Mannes, der auch schon einmal, nämlich am 6. Januar 2021, als damals abgewählter Präsident und zusammen mit seinen Anhängern und Fans erfolglos versucht hatte, das Kapitol in Washington zu stürmen – hat denn auch überall Unruhe und Bestürzung ausgelöst.
Die «Frankfurter Allgemeine» schrieb: «Anders als 2016 sind die Wochen nach der ersten Wahl von Donald Trump diesmal geprägt von dem Bedürfnis, sich ins Private zurückzuziehen und im überschaubaren sozialen Kreis der Familie und Freunde zu bleiben.» Das sei der grosse Unterschied zum letzten Mal, als im Januar 2017 beim «Women’s March» vier bis fünf Millionen Menschen gegen Trump demonstrierten.
«Le Monde» (Paris) hingegen sieht bei der erneuten Wahl Trumps zum US-Präsidenten ganz andere Probleme: «Die sozialen Medien werden zu politischen Diskussionsforen und dies birgt für die Demokratie eine grosse Herausforderung.» Und schlimmer noch: «2024 ist ein besonderes soziales Medium im Zentrum der Beunruhigung: X.» Der Besitzer, Elon Musk, sei Trumps Freund und habe die frühere Plattform Twitter in einen libertären Schmelztopf von Provokation und politischer Unterwanderung verwandelt.
Das deutsche Magazin «Rolling Stone» fragt: «Ein flaues Gefühl im Magen?» Nicht schlimm: «Das ist politische Trauer.» Und zum Schluss – wie könnte es anders sein – die «Neue Zürcher Zeitung»: «Über eine Woche nach Donald Trumps Wahlsieg dominiert bei vielen Linken noch immer ein Gefühl, das man sonst nach dem Tod eines geliebten Menschen kennt: Trauer, Angst und Ohnmacht.»
Gemäss unseren Recherchen für diesen «Blick in die Welt» ist aber niemand so weit gegangen wie die beiden Berner Zeitungen. Und das kommt sicher nicht von ungefähr. Denn wenn hier mitten in Bern, nämlich im Parlamentsgebäude, dereinst bei den nächsten Gesamterneuerungswahlen des Bundesrates (d.h. der Landesregierung) das eine Mitglied gewählt oder das andere nicht wiedergewählt würde, so müsste man sich heute vielleicht auch in der Schweiz auf eine Art politische Landestrauer gefasst machen. Auf eine politische Depression (PD) gewissermassen. Ausgelöst vor allem über die sozialen Medien. Aber weil wir hier in der Schweiz, nicht wie in den USA, ein mustergültig intaktes Gesundheitssystem haben, könnte man sich – mithilfe der obligatorischen Krankenversicherung – sicher beim Hausarzt gegen PD impfen lassen.
Spass beiseite. «Le Monde» hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Die sogenannten sozialen Medien können auch und gerade in der Politik eine problematische Rolle spielen. Abgesehen davon, dass in den USA etwa ein Elon Musk – dessen Vermögen auf 260 Milliarden Dollar geschätzt wird – via X (vormals Twitter) den Wahlkampf von Donald Trump finanzieren konnte, sind die sozialen Medien in der Schweiz im Unterschied zu den klassischen Medien Zeitung, Radio und Fernsehen derzeit formell nur gerade dem Fernmeldegesetz unterstellt. In den Bereichen Schutz von Kindern und Jugendlichen, Datenschutz oder auch wenn soziale Medien zur Organisation von politischen Massenveranstaltungen missbraucht werden – auf all diesen wichtigen Gebieten fehlen bislang ausreichende gesetzliche Regelungen.
Überhaupt: Was an den sozialen Medien sozial sein soll, das ist zumindest rätselhaft. Man müsste sie besser in den Griff bekommen… oder verbieten.
OSWALD SIGG
JOURNALIST, EHEMALIGER BUNDESRATSSPRECHER [email protected]