Bethlehem ist überall
23.12.2025 GstaadGedanken zum Weihnachtsfest – inspiriert von Pieter Brueghels «Die Volkszählung in Bethlehem».
An einem heissen Sommertag stand ich in einem kühlen Saal des Bonnefanten-Museums in Maastricht in den Niederlanden. Zwischen stillen Wänden, fern von ...
Gedanken zum Weihnachtsfest – inspiriert von Pieter Brueghels «Die Volkszählung in Bethlehem».
An einem heissen Sommertag stand ich in einem kühlen Saal des Bonnefanten-Museums in Maastricht in den Niederlanden. Zwischen stillen Wänden, fern von jeder Hektik, blieb ich vor einem Gemälde stehen, das mich seltsam berührte:
Auf den ersten Blick sieht man ein winterliches Dorf in Flandern. Menschen schieben Holzschlitten, Kinder spielen auf dem Eis, Bauern laden Säcke ab, irgendwo wird ein Schwein geschlachtet. Es ist ein Tag wie viele – geschäftig, kalt, ganz normal. Und doch, wenn man genauer hinsieht, entdeckt man inmitten all dieses Treibens ein Paar, das auf einem Esel reitet. Maria und Josef. Sie sind gekommen, um sich zählen zu lassen – genau wie alle anderen auch. Nichts weist darauf hin, dass hier etwas Besonderes geschieht.
Der flämische Maler Pieter Brueghel hat das Heilige mitten in das Alltägliche gemalt. In seinem Werk ist das Bethlehem der Bibel kein ferner Ort, sondern liegt vor der eigenen Haustür, im verschneiten Europa. Und genau darin liegt eine tiefe Wahrheit: Bethlehem ist überall.
Das Heilige im Alltäglichen
Die Weihnachtsgeschichte ist schnell erzählt: Ein Kind wird geboren, unter ärmlichen Umständen, am Rande der Stadt. Es gibt keinen Platz in der Herberge, also wird das Kind in eine Futterkrippe gelegt. Hirten kommen, Engel singen.
Wir kennen diese Geschichte gut – vielleicht zu gut. Sie ist uns vertraut geworden, fast zu vertraut. Wir sehen den Stall, das Licht, die Figuren – aber manchmal vergessen wir, was die Geschichte uns eigentlich erzählen will.
Brueghel erinnert uns daran: Weihnachten spielt nicht in einer heilen, überirdischen Welt. Es spielt in dieser Welt – in unserer. Zwischen Steuerlisten und Volkszählung, zwischen Menschen, die mit sich selbst beschäftigt sind, zwischen Kälte und Arbeit. Und genau dort geschieht das Wunder: Gott kommt in unsere Welt, so wie sie ist.
Bethlehem ist überall
Als ich vor dem Gemälde stand, dachte ich: Wie leicht übersehe ich das Entscheidende. Maria und Josef sind so klein, fast unscheinbar. Ich hätte sie übersehen, wenn ich nicht stehen geblieben wäre.
Vielleicht ist das die Botschaft dieses Bildes: Das Entscheidende geschieht leise. Das Heilige ist mitten unter uns, aber wir müssen hinschauen, um es zu erkennen.
Was, wenn Bethlehem heute irgendwo in unserer Nähe liegt?
Was, wenn die schwangere Frau, die keinen Platz findet, nicht damals in Judäa, sondern heute in einer Flüchtlingsunterkunft lebt?
Was, wenn das Kind im Stall heute in einem Spitalbett geboren würde, ohne Papiere, ohne Sicherheit?
Was, wenn Gott sich auch heute noch dort offenbart, wo wir ihn am wenigsten erwarten – in der Armut, in der Fremdheit, in der Verletzlichkeit?
Bethlehem ist überall: In den Strassen unserer Städte, in den Dörfern, in den Häusern, wo Menschen einander brauchen, wo jemand wartet, wo jemand leidet.
Ein Gott, der sich klein macht
Weihnachten erzählt von einem Gott, der sich nicht über uns erhebt, sondern zu uns herabkommt. Nicht, um uns zu beeindrucken, sondern um uns zu begegnen. Nicht, um zu herrschen, sondern um zu teilen.
Das ist das Geheimnisvolle und zugleich das Schöne dieser Nacht: Gott kommt als Kind. Wehrlos. Bedürftig. Menschlich.
Brueghel malt dies mit den Augen eines Realisten. Es gibt keine goldenen Heiligenscheine, keine Engel, keine Überhöhung. Nur ein Dorf, in dem das Leben weitergeht. Und irgendwo darin – verborgen, unscheinbar klein – beginnt das grösste Wunder der Menschheitsgeschichte.
Kategorisiert, vermessen, berechnet
Die Volkszählung, die Lukas im Evangelium beschreibt, ist kein nebensächliches Detail. Sie ist der Hintergrund, vor dem das Heil geschieht. Menschen werden registriert, gezählt, verwaltet. Und inmitten dieser bürokratischen Welt, in diesem von Macht bestimmten Ablauf, wird ein Kind geboren, das niemand gezählt hat – dessen Leben aber alles verändert.
Vielleicht ist das auch heute so. Wir leben in einer Welt der Zahlen: Bevölkerungsstatistiken, Wirtschaftsdaten, Klickraten, Wahlprognosen. Menschen werden kategorisiert, vermessen, berechnet.
Doch Weihnachten erinnert uns daran, dass Gott anders zählt. Nicht nach Macht, nicht nach Leistung, nicht nach Ansehen – sondern nach Liebe.
Er sieht jeden Menschen. Er zählt uns nicht, er kennt uns.
Das Licht, das nicht erlischt
Brueghel malte Schnee und Eis – und doch wirkt sein Bild warm. Vielleicht weil das Licht, das er andeutet, nicht von aussen kommt, sondern von innen.
Das Licht von Weihnachten ist kein grelles Scheinwerferlicht. Es ist das Licht, das durch Ritzen fällt, das die Dunkelheit nicht vertreibt, sondern verwandelt.
Es erinnert uns daran, dass es Hoffnung gibt. Selbst in einer Welt, die manchmal kalt, überwältigend und ermüdend erscheint.
Denn inmitten dieser Welt strahlt das Kind von Bethlehem – klein, verletzlich und doch voller göttlicher Kraft.
Als ich das Museum verliess, war draussen Sommer. Die Sonne schien, kein Schnee weit und breit. Und doch war mir, als hätte ich etwas von diesem winterlichen Licht mitgenommen.
Vielleicht ist das das Wunder von Weihnachten: dass es unseren Blick verändert. Dass wir lernen, das Heilige zu sehen – inmitten des Alltäglichen, inmitten des Lebens. Bethlehem ist überall. Wo Menschen sich öffnen. Wo einer den anderen wahrnimmt. Wo inmitten von Menschenmassen, Lärm und Alltag ein Moment der Liebe entsteht. Dann ist Weihnachten. Und Gott ist da – mitten unter uns.
CAROLA WATTS

