RANDNOTIZ
30.05.2025 KolumneDer Uhu im Bild
KEREM S. MAURER
«Das also ist des Pudels Kern!», ruft Doktor Faust überrascht, als sich der kleine Hund vor seinen Augen in Mephisto verwandelt – der Teufel steckt eben doch im Detail. Heute gebrauchen wir den Ausdruck Pudels ...
Der Uhu im Bild
KEREM S. MAURER
«Das also ist des Pudels Kern!», ruft Doktor Faust überrascht, als sich der kleine Hund vor seinen Augen in Mephisto verwandelt – der Teufel steckt eben doch im Detail. Heute gebrauchen wir den Ausdruck Pudels Kern, um auf das Wesentliche einer Geschichte hinzuweisen. Wie etwa das Haar in der Suppe, den Wolf in der Fabel oder eben – ganz neu und unverbraucht: den Uhu im Bild.
Es war an einem sonnigen Samstagmorgen im Frühling. Ich sass zu Hause auf der Terrasse und schrieb an meinem Roman, als eine Schar aufgeschreckter Raben laut krähend meine Aufmerksamkeit erheischten. Ein Schwarm von vielleicht zwanzig Vögeln kreiste nahe der Felswand hinter unserem Daheim und schien sich über irgendetwas fürchterlich aufzuregen. Ich dachte mir, dass ein Haufen zankender Raben in der Luft spannende Fotosujets abgeben würde, rannte los und holte Kamera samt Teleobjektiv. Kurze Zeit später zoomte ich die Streitkrähen so nahe wie möglich heran und schoss einige Fotos. Bei der Durchsicht der Bilder stellte ich erfreut fest, dass einige Streitaufnahmen in luftiger Höhe gelungen waren. Diese wollte ich mir genauer ansehen.
Am Bildschirm sahen die Bilder noch spektakulärer aus, als auf dem Kameradisplay. Ich schaute die Fotos durch und blieb an einem hängen, das mich von der Dynamik her am meisten ansprach. Ich zoomte in das Foto hinein, um das Detail, das mich am meisten interessierte, in voller Grösse anzuschauen. Plötzlich fühlte ich im wahrsten Sinn des Wortes eine Gänsehaut über meinen Rücken kriechen. Hinter den erregt flatternden Krähen erkannte ich einen Uhu, der mit hocherhobenen Flügeln die Krähen abwehrte, um seine Küken, die sich hinter ihm in den Horst duckten, zu beschützen! Als ich die Bilder noch einmal durchschaute, konzentrierte ich mich auf das Geschehen hinter den wild flatternden Raben und entdeckte so auch auf anderen Fotos die Uhus, die von den Krähen bedrängt wurden.
Letztlich zogen die Krähen ab und liessen die Eulen wieder in Ruhe. Da ich nun wusste, wo die Uhus, die ich schon so oft gehört und auch schon das eine oder andere Mal vorbeifliegen gesehen hatte, ihren Horst hatten, beobachtete ich die Tiere in den folgenden Wochen weiterhin. Sie zogen zwei Junge auf. Eines Tages verliessen die flauschigen Federkugeln das Nest, trieben sich noch einige Tage in der Nähe herum und verschwanden irgendwann.
Seitdem ist es bei uns ein geflügeltes Wort geworden, wenn wir uns ein Foto ansehen, über dessen Aussage oder Geschichte wir uns nicht klar sind. Dann sagen wir: «Such nach dem Uhu im Bild!»