RANDNOTIZ
27.09.2024 KolumneHeilende KI
SONJA WOLF
Geht es Ihnen auch manchmal so? Sie stehen in einer Ausstellung vor einem Werk und es macht «Klick». Oder vielmehr «Bam»! Irgendetwas tief in Ihrem Inneren hat das Kunstwerk berührt und sie sind fasziniert. Eine nagende ...
Heilende KI
SONJA WOLF
Geht es Ihnen auch manchmal so? Sie stehen in einer Ausstellung vor einem Werk und es macht «Klick». Oder vielmehr «Bam»! Irgendetwas tief in Ihrem Inneren hat das Kunstwerk berührt und sie sind fasziniert. Eine nagende Neugier macht sich in Ihnen breit und Sie beginnen, direkt nach der Ausstellung im Internet zu recherchieren. Fieberhaft. Fast leicht besessen sogar.
Nun, so erging es mir diese Woche am Fotofestival «Images» in Vevey, wo auf die Stadt verteilt 50 Ausstellungen zu sehen sind. Gleich gegenüber des Bahnhofs sieht man von Weitem schon Tafeln mit fröhlichen Familienbildern wie aus einem Fotoalbum. Hochzeiten, Weihnachtsfeiern, Familienurlaube, Kindergeburtstage. Und das alles nach der Umgebung der Fotos zu urteilen in Griechenland. Freudig nähert man sich den aufgestellten Fototafeln. Doch jäh wandelt sich die nostalgische Stimmung in Entsetzen um: Alle Gesichter auf den Familienfotos sind fratzenhaft. Degeneriert. Wie einem Alienfilm entnommen oder durch einen seltenen Gendefekt entstellt.
Die erklärenden Worte zur Künstlerin und ihrem Werk, die neben den Fototafeln zu lesen sind, bringen nur begrenzt Licht ins Dunkel. Zu Hause ging es also dann los mit der Recherche! Ich wollte mehr zur Künstlerin wissen und mehr zu ihren schaurig-gruseligen Familienfotos!
Ups, wie war gleich noch mal der Name der Künstlerin? Chat GPT versagte mal wieder auf ganzer Linie. Er (oder sie?) schwor Stein und Bein, dass bei der «Images»-Ausstellung in Vevey keine griechische Künstlerin dabei war. Ich musste ihn (oder es?) schon mit ganz ausgeklügelten Fragen bombardieren, bis ich endlich die Lösung hatte: Maria Mavropoulou! So sehr Chat GPT auch bei der Recherche versagt hatte, so sehr hatte er/ sie/es allerdings der Künstlerin geholfen! Denn nun, wo ich den Namen herausbekommen hatte, erfuhr ich auf verschieden Internetseiten die berührende Geschichte.
Die Künstlerin vermisste die nostalgische Freude, die einem Familienfotoalben schenken. Denn ihre Familie hatte durch verschiedene Umzüge die meisten fotografischen Zeitzeugen verloren. Und so kreierte sie mit dem Text-zu-Bild-Programm DALL-E einfach ihre eigenen Familienbilder. Mehr noch: Es reichte Mavropoulou nicht, die Lücken in ihrem Familienalbum zu füllen. Sie wollte sich auch Momente kreieren, die gar nie stattgefunden hatten. Denn sie hatte damals zum Beispiel niemals eine eigene Geburtstagsparty feiern dürfen. Und die fratzenhaften Gesichter? Die kamen dadurch zustande, weil die KI diesbezüglich einfach noch in den Kinderschuhen steckt. Nun, Maria Mavropoulou findet das nicht schlimm. Sie betrachtet das Projekt als «Heilung», weil die KI-Bilder bei ihr schliesslich dieselben Gefühle hervorrufen wie echte Fotos. Und auch mich hat sie dank ihrer Geschichte mit der KI versöhnt, die mich bei meiner Recherche ja ziemlich enttäuscht hatte.