Sonne, Mond und Jäger

  18.11.2022 Saanenland

Nach Hirschen und Gämsen folgt im Jagdkalender das Rehwild. Diese Woche endete die Rehjagd. Unterwegs mit einem Jäger, sah ich zwar das Reh nur aus der Ferne, aber die Natur in voller Schönheit.

JENNY STERCHI
Die Sonne scheint gleissend aus Westen gegen den Rinderberg. Es ist ein später Nachmittag Anfang November. Tom Moser, Jäger im Jagd- und Wildschutzverein Saanenland, ist mit mir im Wildraum 13 unterwegs und Jagdziel ist heute ein Stück Rehwild.

«Unsere Ausgangslage hier ist prima», erklärt mir Tom Moser, der vor vier Jahren seine Jagdausbildung abschloss. «Hier grenzen drei Wildräume aneinander. Das heisst, wir können ohne grossen Aufwand auf einen anderen Wildraum ausweichen, in dem noch Abschüsse frei sind, also die vorgegebene Abschusszahl noch nicht erreicht ist.» Beim Rinderberg kommen die Wildräume 12, 13 und 14 zusammen.

Wildräume sind topografisch festgelegte Gebiete, für die im Vorfeld vom Jagdinspektorat die Kontingente an Wildtieren festgelegt wird, die zum Abschuss freigegeben sind. Die Abschusszahlen werden streng kontrolliert. Für Feld- und Schneehasen sowie für Fasanenhennen gilt im Kanton Bern ein absolutes Jagdverbot.

Fehlabschüsse werden mit empfindlich hohen Geldstrafen belegt. Für einen guten Weidmann kommt jedoch solches Fehlverhalten nicht in Frage. Und so ist auch Jäger Moser an diesem Nachmittag mit mir auf einem Pirschgang, bei dem er sich über jedes Wild freuen würde, das sich ihm zeigt, ohne die Waffe sofort in Position zu bringen.

Der Pirschgang beginnt auf der Strasse
Es ist vier Uhr nachmittags, wir sind unterwegs zur Mittelstation der Rinderberg Gondelbahn. Und begegnen ein paar Landwirten, die Mist aufs Land führen, Zäune ablegen, ihr Weideland auf den Winter, der noch in weiter Ferne scheint, vorbereiten. Entfernt hören wir Stimmen, sie dringen aus einer Alphütte, die vermutlich auch gerade winterfest gemacht wird. Wir stellen das Auto unterhalb der Eggweid ab. Während ich einzig meine Kamera an mich nehme, schultert Tom Moser einen Rucksack, sein Gewehr und seinen Pirschstock. Zu Fuss gehen wir entlang der Strasse, vorbei an der Mittelstation, und gehen dann auf einem Fahrweg oberhalb der Rinderberg Swiss Alpine Lodge in Richtung Westen, der Sonne entgegen. Die Herbstpracht, die sich an Bäumen und Sträuchern in diesem Jahr besonders lange präsentiert, leuchtet kräftig. Wir verlassen den Weg, gewinnen über das Weideland an Höhe und haben das Gespräch eingestellt. Einzig das trockene Gras raschelt ein wenig unter unseren Schuhen.

Ungekannte Stille
Kein Vogel ist zu hören. Das verrät, dass es Herbst ist. Und auch sonst zeigt sich bis dahin kein Tier. Stumm sind wir unterwegs, um uns die Chance zu erhalten, doch noch ein Stück Wild zu Gesicht zu bekommen. Zwischendurch hält Jäger Moser an. Schaut durchs Fernglas, sucht die ganze Gegend ab. Und alles geschieht mit einer Ruhe, die man sonst kaum noch findet. Für Tom Moser, der sonst als Architekt arbeitet und mit Terminen und Fristen dabei fern von Ruhe und Gelassenheit ist, sind es genau diese Momente, in denen er verharrt. «Es ist doch einfach kostbar, sich diese Zeit hier draussen in der Natur nehmen zu können», flüstert er mir zu. «Da muss ich auch nicht jedes Mal auf Wild treffen.» Tatsächlich ist es für einen Moment, als wäre man allein auf der Welt. Strassenlärm dringt nicht bis hier hinauf. Die Landwirte mit ihren Fahrzeugen sind inzwischen daheim angekommen. Es surrt noch keine Gondelbahn und kein Sessellift. Verlassen liegt die Bergstation der Verbindungsbahn vor uns.

Reh in Sicht
Wir gehen weiter, diesmal ostwärts. Die Sonne verschwindet und der Mond löst sie am abendlichen Himmel ab. Es fehlen ihm noch drei Tage bis er voll sein wird. Aber sein Leuchten ist jetzt schon immens. Ein Kolkrabe fliegt über uns und meldet unaufdringlich seine Anwesenheit in die Abendstille. Der Jägersmann hat wieder das Fernglas vor den Augen und deutet mir plötzlich, ich solle zu ihm kommen. Weit weg, vielleicht 300 Meter entfernt, sehe ich einen schmalen Kopf am Waldrand. Ich schaue durch mein Kameraobjektiv. Dort steht sie, eine Rehgeiss. Sie bewegt sich keinen Millimeter, sichert unentwegt das Gelände. Zwischendurch bin ich nicht ganz sicher, ob wir nicht vielleicht dabei sind, einen Baumstumpf zu beobachten. Aber dann dreht sie ihre Lauscher, macht jedoch keinen Schritt. Wir sitzen mittlerweile beide im Gras und schauen der auf Sicherheit bedachten Geiss zu.

Tom Moser beschliesst, ein wenig näher heranzukommen. Hintereinander schleichen wir in Richtung Tal. Der Wind steht günstig. Sie wird uns nicht riechen.

Ich verfluche die Fasern meiner Regenhose. Sie halten mich zwar trocken und warm, aber das Rascheln in der Stille scheint mir ohrenbetäubend und verräterisch. Wir erreichen den Rand einer Lichtung, ich lasse den Jäger vorausgehen, will ihm mit meiner lautstarken Kleidung nicht alles vermasseln. Er zeigt mir an, zwei Stück zu sehen. Unhörbar klappt er seinen Pirschstock aus. Kurz bevor er ihn in Position bringen kann, dringt ein bellender Warnlaut zu uns. Als ich die Lichtung erreiche, ist nichts mehr zu sehen von Rehen. «Ich habe auch nur noch zwei Spiegel (Hinterteil bei den Rehen) im Wald verschwinden sehen», sagt Tom Moser, deutlich ohne Groll.

Hier gehts zur Zufriedenheit
Während wir den Blick hinüber ins Saanenland, vorbei an Hundsrügg und Holaasfluh, auf die Stockhornkette und schliesslich in Richtung Chumi und Spillgerten schweifen lassen, überkommt mich eine grosse Zufriedenheit.

Das Licht wird immer weniger, die Dunkelheit bricht herein. Auf dem Rückweg zum Auto reden wir noch immer nicht viel. Aber nicht etwa aus Enttäuschung, keinen Jagderfolg erzielt zu haben. Ich würde gern in den Kopf des Weidmanns schauen. «Es stresst mich nicht, dass es heute nicht geklappt hat», sagt er und ich bin erschrocken. Wieso weiss er, was ich denke? Ich nehme es ihm ab, er scheint zufrieden.

Vielleicht überlegt sich der Jäger, wann er es das nächste Mal versuchen wird. Ich hingegen bin beseelt, Rehwild gesehen zu haben und insgeheim sehr froh, dass die beiden Tiere für heute vorsichtig genug waren.


KLEINES LEXIKON DER PIRSCHJAGD

Büchsenlicht: Lichtverhältnisse, die den Jäger das Wildtier noch sicher erkennen lassen.
Pirsch: Anders als bei der Ansitzjagd, bei der der Jäger auf das Wild wartet, zieht er durchs Gelände und sucht die Standorte der Tiere auf.
Pirschstock: Ein Dreibein, das als Auflage für das Gewehr dient. Während früher schlanke Äste, die der Wald hergab, genutzt wurden, kommen heute auch schon mal hochtechnologische Konstruktionen aus Leichtbaustoffen zum Einsatz.
Ansprechen: Präzise Beobachtung, Identifizierung und Beurteilung von Wild vor der Schussabgabe durch den Jäger.
Spiegeln: Das Wild durchs Fernglas beobachten, die Gegend nach Wild absuchen.

JENNY STERCHI


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