«Das grosse Gebet der Eidgenossen»

  26.08.2022 Schweiz

Zu Geschichte und Gegenwart des Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettages

Jeweils am dritten Sonntag im September wird in fast allen Kantonen der Schweiz der Eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag gefeiert. Dieser Festtag ist in zweierlei Hinsicht ein besonderer: Zum einen handelt es sich nicht um einen kirchlichen Feiertag, sondern um einen vom Staat angeordneten. Zum anderen wird der Bettag sowohl von den evangelisch-reformierten, den römisch-katholischen und den christkatholischen Kirchgemeinden wie auch von den israelitischen Kultusgemeinden gefeiert. Mit anderen Worten: An diesem Tag wird das Gebet vom Staat verfügt und ökumenisch bzw. interkonfessionell vollzogen.

Die Ursprünge im Judentum
Das Judentum kennt zehn Busstage. Sie dienen dazu, über das eigene Leben nachzudenken und die Beziehung zu sich selbst, zum Nächsten und zu Gott (wieder) in Ordnung zu bringen; dabei helfen Gebete, rituelle Handlungen und Fastenzeiten. Aus dieser Praxis sind die Buss- und Bettage des Christentums hervorgegangen. Und zwar auch auf dem Gebiet der nachmaligen Schweiz: Für die Notzeiten des Spätmittelalters verordneten die Stände der Alten Eidgenossenschaft bestimmte Feierlichkeiten; an ihren Versammlungen, den sogenannten Tagsatzungen, fanden regelmässig Dank- und Bussfeiern statt. Im 16. Jahrhundert verfügten zunächst die Obrigkeiten der reformierten Stände dieses «Grosse Gebet der Eidgenossen». Anlass konnte der Ausbruch einer Seuche sein, der Pest etwa, oder eine Teuerung, welche die ohnehin arme Bevölkerung ihrer letzten Mittel beraubte. Die genannten Feiern fanden wöchentlich oder monatlich statt, oft waren sie mit Fastenübungen verbunden und immer mit Kollekten für notleidende Glaubensgenossen. Als erster Stand veranstaltete Basel im Jahr 1541 eine solche Feier, Bern einige Jahre später, im Jahr 1577.

Zunächst katholische und evangelische Bettage
An einer Synode im Jahr 1619 im niederländischen Dordrecht konnten sich die Reformierten Europas auf eine gemeinsame theologische Position einigen. Aus Dankbarkeit für dieses hart umkämpfte Ergebnis feierten die evangelischen Orte der Alten Eidgenossenschaft kurze Zeit später erstmals einen gemeinsamen Bettag. Einige Jahre danach – der Dreissigjährige Krieg (1618 bis 1648) tobte noch immer, verschonte jedoch das Gebiet der Schweiz weitgehend – verständigte sich die evangelische Tagsatzung darauf, aus Dankbarkeit für die Bewahrung vor dem Krieg alljährlich einen gemeinsam Dank-, Buss- und Bettag zu feiern. Im Jahr 1643 beschlossen auch die katholischen Stände, im Blick auf den Krieg Andachten, Buss- und Dankgottesdienste zu feiern.

Der erste ökumenische Bettag
Die Französische Revolution im Jahr 1789 schlug die alte Ständeordnung nieder und hatte Folgen für ganz Europa, auch für die Alte Eidgenossenschaft; diese sah sich nun einer militärischen Bedrohung durch die Truppen Napoleons ausgesetzt. Im Angesicht von Gefährdung und Unsicherheit verständigten sich im Jahr 1796 sämtliche Orte der Alten Eidgenossenschaft – sowohl die reformierten wie auch die katholischen – darauf, erstmals eine allgemeine Dank-, Buss- und Gebetsfeier durchzuführen.

Bürgerkrieg und Bundesstaat
Die Jahre nach der Niederlage gegen Frankreich waren für die Schweiz eine Zeit der Unruhe und des Wandels. Zunächst entstanden auf dem Gebiet der Alten Stände eine französische Tochterrepublik (die Helvetische Republik), ein Staatenbund und Kantone mit eigener Fassung (Zeit der Mediation) und, nach dem Wiener Kongress von 1815, ein eidgenössisches Bündnis mit Festschreibung der Neutralität (die Tagsatzung) folgten.

In den 1840er-Jahren verschärfte sich der alte Streit zwischen den liberalen, den Ideen der Französischen Revolution nahestehenden und den konservativen Kräften, die sich allen Veränderungen widersetzten. Der Konflikt fand seinen Höhepunkt in einem Bürgerkrieg zwischen katholisch-konservativen und liberalen Kantonen (Sonderbundskrieg von 1847). Letztere setzten sich unter der Führung von General Dufour durch und veranlassten eine Revision des Bundesvertrages; im Jahr 1848 trat die Bundesverfassung in Kraft und legte den Grundstein für die moderne Schweiz. Ihre Stände bildeten nun nicht mehr einen Staatenbund, sondern einen Bundesstaat.

Der Friede ist bedroht
Das friedliche Zusammenleben im noch jungen Bundesstaat war nicht selbstverständlich, sondern musste immer neu errungen werden. Insbesondere der Religionsfriede zwischen Katholiken und Protestanten war zerbrechlich und drohte, von der einen oder anderen Seite aufgekündigt zu werden. In dieser Situation leistete der gesamteidgenössische Dank-, Buss- und Bettag einen wichtigen Dienst: Er erinnerte an die christlichen Wurzeln des Bundesstaates und betonte die Gemeinsamkeiten. Die konfessionsübergreifende Feier unterstützte Respekt und Toleranz gegenüber Andersdenkenden, verlieh dem jungen Staat ein festigendes Element, stärkte den Zusammenhalt und überwand Differenzen.

Der Regierungsrat oder die Kirchenleitung
Das Bundesrecht äussert sich nicht zum Bettag, an diesem Tag hat der Bundesrat keinen Auftritt. Allerdings erliessen die Kantone traditionellerweise sogenannte Bettagsmandate. Diese Stellungnahmen der kantonalen Regierungen sprachen über aktuelle politische oder gesellschaftliche Themen und wurden von der Kanzel verlesen; als Staatsschreiber verfasste zum Beispiel Gottfried Keller die Bettagsbotschaft des Zürcher Regierungsrates. Heute allerdings überlassen die Regierungen von Zürich und Bern diese Aufgabe den jeweiligen Kirchenleitungen; in den Kantonen Graubünden, Glarus oder Baselland dagegen nimmt noch immer der Regierungsrat Stellung zum Bettag.

Die Schweizer Bischöfe der römischkatholischen Kirche veröffentlichten traditionellerweise einen Hirtenbrief zum Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag. Seit einigen Jahren allerdings verzichten sie darauf, sich öffentlich zu diesem Tag zu äussern.

Und heute?
Ich halte den Bettag nach wie vor für einen wichtigen Fest- und Feiertag für alle Menschen in unserem Land. Er bringt zum Ausdruck, dass Kirchen und Religionsgemeinschaften gesellschaftlich eine aktive Rolle spielen und Christenmenschen auch im Staat Verantwortung tragen. Meines Erachtens stärkt dieser Tag unser Zusammenleben und erinnert daran: Unser Land hat seine Wurzeln in der christlichen Tradition, evangelische Tugenden wie Freiheit und Verantwortung sind bedeutsam für die Schweiz.

Freiheit und Verantwortung
Für die Eidgenossenschaft ist seit jeher wichtig: Wir lassen uns weder bevormunden noch gängeln; der einzelne Mensch ist, daran halten wir fest, ein mündiger Bürger. Aus dieser Einsicht wächst freilich die Verpflichtung, Verantwortung wahrzunehmen. Und zwar nicht nur für sich selbst und seine Nächsten, sondern über den Kreis persönlicher Interessen hinaus. Mit anderen Worten: Wer frei ist und mündig, der oder die stellt sich immer auch in den Dienst Dritter. Dazu gehört auch, dass ich jene respektiere, die meine Sicht der Welt nicht teilen.

Die Schönheit und die Stärke der Schweiz
Die Erkenntnis, dass Freiheit und Verantwortung zusammengehören, ist in besonderer Weise auf dem Boden des Schweizer Protestantismus gewachsen. Johannes Calvin, zum Beispiel, hat seiner Kirche eingeschärft, dass die Zuwendung Gottes ihre Entsprechung findet in einem tätigen Glauben.

Der Eidgenössische Dank-, Bussund Bettag schliesst an diese Erkenntnis an und erinnert daran: Es gehört zur Schweiz, dass wir als freie und mündige Bürger leben können. Es gehört zur Schweiz, dass wir – innerund ausserhalb unserer Landesgrenzen – Unterstützung und Hilfe leisten. Mit beiderlei tun wir uns zuweilen schwer. Und beiderlei macht die Schönheit und die Stärke unseres Landes aus.

BRUNO BADER


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